Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
Vom Netzwerk:
die entsprechende Großgruppe wächst oder schrumpft. Historiker und Wirtschaftsgeografen haben die Entstehung einer breiten Mittelschicht mit Bildung, Wohlstand und Massenkonsum als spezifisches Charakteristikum (west)europäischer Gesellschaften herausgestellt (Kaelble 2007). Die Daten zeigen für diese Region ein starkes Anwachsen der Mittelschicht in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so dass ab Mit
te der achtziger Jahre in fast allen Ländern über 50 Prozent der Menschen in dieser Kategorie verortet werden können (Allum 1995). Nirgendwo sonst in der Welt hat sich die Mitte derart verbreitert, in keiner anderen Region gingen Wohlstandsmehrung und breite gesellschaftliche Teilhabe eine so enge Verbindung ein. Weder in den USA , wo das Netz der sozialen Sicherung deutlich weitmaschiger ist und Ungleichheiten stärker toleriert werden, noch in Brasilien oder Argentinien, wo oligarchische Strukturen eine Verbreiterung der Mittelschicht lange Zeit verhinderten, in China, wo die verarmte Landbevölkerung den Menschen in den aufstrebenden Städten und den Profiteuren des Wirtschaftswachstums gegenübersteht, oder in Russland, wo der neue Reichtum aus dem Kasino- und Rohstoffkapitalismus bislang kaum nach unten durchsickert. Was die Konstellation im Nachkriegs(west)europa so einmalig macht, sind die Zähmung des Kapitalismus durch politische Regulierung, soziale Umverteilung, Risikokompensation und der große Wohlstandsbauch der Mittelschicht. Der schwedische Soziologe Göran Therborn hat (West-)Europa deshalb einmal als »Skandinavien der Welt« bezeichnet (1997). Dennoch gibt es auch hier gravierende Unterschiede: Die größte Mittelschicht finden wir in den skandinavischen Ländern, Deutschland, die Niederlande und die Schweiz liegen in der Mitte, Großbritannien nimmt einen der hinteren Plätze ein (Pressman 2007).
    Eine starke und erfolgreiche Mittelschicht gilt vielen sowohl als Garant für die Stabilität der Demokratie wie auch als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Von Aristoteles stammt das wohl bekannteste Plädoyer für eine Gesellschaft und einen Staat der Mitte und der Mittleren:

    »Der Staat soll also möglichst aus Gleichen und Ebenbürtigen bestehen, und dies ist bei den Mittleren am meisten der Fall. So wird jener Staat die beste Verfassung haben, der so aufgebaut ist, wie ein Staat nach unserer Feststellung der Natur gemäß aufgebaut sein soll. Diese Schicht der Bürger hat ja auch im Staate am meisten Si
cherheit, denn sie begehren nicht nach fremdem Besitz, wie die Armen, noch begehren andere nach dem ihrigen, wie es die Armen den Reichen gegenüber tun. Und da ihnen keiner nachstellt und sie keinem nachstellen, leben sie ohne Gefahr. Mit Recht hat also Phokylides gewünscht: ›Das Mittlere ist bei weitem das Beste, ein Mittlerer möchte ich im Staate sein.‹« (2003: 152/1295b)

    Auch heute sind politische Eliten (zumindest in Sonntagsreden) stets um das Wohl der Mitte besorgt. US -Vizepräsident Joe Biden, der die bereits erwähnte Middle Class Task Force leitet, sagte etwa: »Eine starke Mittelklasse bedeutet ein starkes Amerika. Man kann das eine nicht ohne das andere haben.« Europäische Politiker bekennen sich ähnlich emphatisch zur Mittelschicht. So soll Tony Blair seinen Landsleuten gelobt haben: »Ich will euch alle in die Mittelklasse führen.« Gerhard Schröder trug etwas weniger dick auf: »Wer nicht für eine Mittelschicht sorgt, die sich auch etwas leisten kann, der handelt nicht nur sozial ungerecht, der handelt auch wirtschaftlich unvernünftig.«
    Die Forschung hat viele Belege dafür geliefert, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen der Größe der Mittelschicht und der demokratischen Entwicklung eines Landes gibt (Barro 1999): Je größer die Mittelschicht, desto stabiler die Demokratie. Ökonomen gehen zudem davon aus, dass Gesellschaften mit einer breiten Mitte ein höheres Wachstum und höhere Einkommen aufweisen. Der Wirtschaftshistoriker David Landes erklärt die Industrielle Revolution im England des 18. und 19. Jahrhunderts unter anderem mit der Existenz der »great English middle class« (1998). Eine prosperierende Mitte ist also nicht nur eine Folge wirtschaftlichen Wachstums, sondern auch ihre Voraussetzung (Easterly 2001). Heute kann man diesen Zusammenhang statistisch sehr gut belegen, theoretisch hatten ihn jedoch bereits die Klassiker der Soziologie und der Nationalökonomie postuliert. In seinem Hauptwerk An Essay on the Principle of

Weitere Kostenlose Bücher