Lebenschancen
Ostdeutschen, die eine sehr homogene Sozialstruktur gewohnt waren, empfanden die Mittelschicht zunächst als fremden Ort. Nur wenige konnten sich auf bürgerliche Traditionen berufen, wie sie sich anhand der Lektüre von Uwe Tellkamps Roman Der Turm besichtigen lassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund diagnostizierten Michael Hofmann und Dieter Rink ein grundsätzliches »Problem der Mitte« in den neuen Bundesländern: »Eine Mittelschichtgesellschaft westdeutscher Prägung wird in Ostdeutschland nicht entstehen.« (1999: 164, 167) Die Ostdeutschen machten im Zuge der Wiedervereinigung also eine paradoxe Erfahrung: Einerseits stiegen ihre Einkommen, andererseits erlebten sie eine massenhafte berufliche Deklassierung, die soziale Ungleichheit nahm rasant zu und sie fanden sich auf den unteren Rängen der gesamtdeutschen Sozialstruktur wieder.
Doch zurück zur topografischen Vermessung der Mitte mit den Instrumenten der Sozialforschung. Wie schon angedeutet:
Aus soziologischer Sicht sind Bildung und Beruf neben dem Einkommen zwei weitere Aspekte, mit denen wir die Mittelschicht definieren können. Viele unserer Vorstellungen zur Schichtung einer Gesellschaft sind in einer imaginären Hierarchie der Berufe verankert, wir taxieren und positionieren. Viele assoziieren mit Mittelschicht vor allem solche Berufe, die ein (Fach-) Hochschulstudium voraussetzen und einen hohen Grad an Professionalisierung aufweisen. Ein etwas weiteres Verständnis der Mittelschicht, wie ich es bevorzuge, würde auch qualifizierte Facharbeiter und andere Ausbildungsberufe wie Krankenschwestern bzw. -pfleger, Bankkauffrauen und -männer, Hotelfachleute oder Chemikanten einbeziehen, wenn sie sich im Hinblick auf Einkommen und Konsummöglichkeiten im mittleren Segment bewegen. Schwierig wird es, wenn es um die Zuordnung von Tätigkeiten ohne stark institutionalisierte Ausbildung geht, etwa um Stewardessen oder Immobilienmakler. Die Position hängt hier von der Lebenslage insgesamt ab. Ein gut etablierter Immobilienmakler in Köln, der sich selbst ein Filetstück auf dem Wohnungsmarkt reserviert hat, gehört nach herrschender Meinung wohl (mindestens) zur Mittelschicht, aber was ist mit einer Flugbegleiterin, die nur ab und an bei einer Billig-Airline jobbt?
Um es noch einmal zu betonen: Die Rede von der Mittelschicht verweist, trotz aller Versuche der Abgrenzung, auf eine nicht ganz exakt zu definierende Großkategorie. Schon Georg Simmel hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Mitte zwar eine Grenze nach oben und eine nach unten hat, es aber einen immerwährenden Austausch gibt, wodurch die Grenzen verwischt werden und unscharf bleiben (Simmel 1992 [1908]). Was die Größe der Mittelschicht und die Vielzahl der dazu gezählten Bevölkerungssegmente angeht, kann man durchaus die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, »sich über ›die‹ Mittelschicht insgesamt Gedanken zu machen« (Wagner 2011: 514). Um dem zu begegnen, tendieren Forscher dazu, innerhalb der Mittelschicht immer stärker zu differenzieren. Es ist schon län
ger Usus, zwischen oberer oder gehobener, mittlerer und unterer Mittelschicht zu unterscheiden, so dass man streng genommen immer von »Mittelschichten« sprechen müsste. In der angelsächsischen Tradition der Ungleichheitsforschung, die den Begriff der sozialen Klassen nie abgelegt hat, identifiziert man inzwischen Mikroklassen. Im Gegensatz zu den big classes , die ein sehr grobes Kategorienschema darstellen, geht man hier auf die Ebene beruflicher Positionen. Die Frage, ob sich dahinter dann jeweils ähnliche Lebenslagen verbergen, kann freilich nicht ohne Weiteres beantwortet werden. Auch diese Subunterscheidungen sind also nur Krücken, bei denen es darum geht, der mitunter recht diffusen Rede von der Mittelschicht oder den middle classes etwas entgegenzusetzen. Man sieht: Die soziale Landschaft in »der Mitte« wird umso unübersichtlicher, je genauer man hinschaut. Alle Karten, die wir zeichnen, sind immer nur Abstraktionen, selbst wenn die Mittelschicht als Begriff und Zuordnungsschublade in den Köpfen der Menschen omnipräsent ist.
Die Mitte als gesellschaftlicher Entwicklungsmotor?
Unabhängig von diesen methodischen Fragen sind das Volumen und das Wachstum der Mitte wichtige Indikatoren für die Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen: Für Fragen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dynamik macht es einen Unterschied, ob eine Gesellschaft eine große oder kleine Mittelschicht hat, ob
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