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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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gut auskommen, ein fünfköpfiger Haushalt schon weniger. Als Mittelschicht werden nun alle gezählt, deren Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medians des »äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommens« liegt. (Der Median gibt nicht das durchschnittliche Einkommen in einem Land an, er markiert vielmehr genau jene Position, die die Einkommenshierarchie in eine obere und eine untere Hälfte teilt.) Nach dieser Definition der Mitte wären das zwischen 1050 und 2350 Euro für einen Einpersonenhaushalt. Rechnet man das auf einen vierköpfigen Familienhaushalt mit zwei minderjährigen Kindern um, so kommt man auf zwischen 2250 und 4950 Euro monatlich (Daten des Sozio-ökonomischen Panels, 2009; Grabka 2011). Andere Autoren setzen die Grenzen enger (75 bis 125 Prozent), einige rechnen Personen erst dann zur Oberschicht, wenn ihr Einkommen 200 oder gar 300 Prozent über dem Medianeinkommen liegt.
    Im Prinzip werden diese Kennziffern vor allem dann interessant, wenn es um den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern oder die Entwicklung in einem Land über die Zeit geht. Legt man die Spanne von 70 bis 150 Prozent zugrunde, so lebten in den achtziger Jahren 64 Prozent der Westdeutschen in Mittelschichthaushalten; im Zuge der Wiedervereinigung verringerte sich dieser Wert, bevor er Ende der neunziger Jahre das frühere Niveau von 64 Prozent (das entsprach 52 Millionen Menschen) wieder erreichte. Seitdem ist die Mittelschicht erneut um fünf
Prozent auf 59 Prozent geschrumpft (Grabka 2011). In wohlhabenden bzw. armen Haushalten leben hingegen derzeit jeweils knapp über 20 Prozent der Deutschen. Während die »Oberschicht« dabei zahlenmäßig recht stabil ist, hat sich der Anteil der »Armen« tendenziell vergrößert. Bei den Menschen mit Migrationshintergrund liegt der Anteil der Mittelschichtler bei knapp über 50 Prozent, während 36 Prozent im Einkommensbereich darunter angesiedelt sind (Daten des SOEP nach Markus Grabka, DIW ). Der Ost-West-Vergleich zeigt, dass die Mittelschicht zwar in beiden Landesteilen in etwa gleich groß ist, allerdings leben in den neuen Bundesländern lediglich acht Prozent der Menschen in Haushalten oberhalb der 150-Prozent-Grenze, während 30 Prozent in die Kategorie unterhalb der 70-Prozent-Grenze fallen (Daten des SOEP nach Markus Grabka, DIW ).
    Die DDR war, und Ostdeutschland ist es in gewissem Sinne bis heute, ein Land der kleinen Leute (Engler 1992). Die unterschiedlichen Statusgruppen lebten zudem enger zusammen. In dem 18-geschossigen Hochhaus in einem Rostocker Neubaugebiet, in dem ich aufgewachsen bin, war es selbstverständlich, dass Ärztinnen neben Facharbeitern und Sekretärinnen neben leitenden Angestellten eines volkseigenen Betriebs wohnten. Die Wohnungen waren nicht allzu groß, einfach ausgestattet, verfügten jedoch über Fernwärme und fließend warmes Wasser. Meine Spielkameraden kamen aus demselben Wohnumfeld, die Eltern hatten jedoch ganz verschiedene Berufe. Große Unterschiede im Wohlstand haben wir damals nicht wahrgenommen. Andere Differenzierungen (Westverwandtschaft oder nicht, mehr oder weniger Bildung, Parteikader oder nicht) spielten schon eher eine Rolle. Es gab eine Nivellierung der Soziallagen auf niedrigem Niveau, die sich nach und nach aufgelöst hat. Zwar gibt es Wohlstandsgewinne auch im Osten der Bundesrepublik, allerdings verbleibt ein großer Anteil der Ostdeutschen in den unteren Einkommenssegmenten, und nur ein vergleichsweise gerin
ger Teil von ihnen gehört zu den Top-Einkommensbeziehern. Über 200 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens verdienen gerade mal 2,2 Prozent, im Westen sind es neun. Legt man einen kritischen Maßstab an, dann kam der kollektive Beitritt der Ostdeutschen einer sozialen Unterschichtung der Bundesrepublik gleich. Ganz ähnlich wie die Migranten, die sich zwischen 1955 und 1973 (dem Jahr des Anwerbestopps) unter den Westdeutschen einordnen mussten, wurden nach 1990 die Ostdeutschen auf die unteren Ränge der sozialen Hierarchie verwiesen.
    Versteht man die Sozialstruktur relational, also im Sinne einer Beziehung zwischen gesellschaftlichen Gruppen, dann hat sich die relative Stellung der westdeutschen Mittelschicht im Zuge der Wiedervereinigung sogar verbessert. Bildlich gesprochen, schob sich ein Sockel unter die westdeutsche Mitte. Plötzlich gab es eine (weitere) Gruppe, auf die sie hinunterschauen konnte und deren Angehörige sich nicht selten selbst als Bürger zweiter Klasse verstanden. Die

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