Lebenslang Ist Nicht Genug
blauen Augen auf. Cindy reckte sich, und ihre warmen Ärmchen umfingen zärtlich den Nacken der Mutter. Dann galt es, etwas zum Anziehen auszusuchen. Aber was Gail auch vorschlug, sie stieß regelmäßig auf Protest. Denn so unproblematisch Cindy ansonsten war, sobald es um ihre Kleidung ging, hatte sie einen unbeugsamen Dickkopf. An vielen Tagen hoffte Gail insgeheim, Cindys Lehrerin möge erraten, daß die Kleine sich ihre Sachen selbst aussuchte und daß ihre Mutter weder farbenblind noch eine überspannte Exzentrikerin sei. Heute bestand Cindy, obwohl es recht warm war, darauf, ein purpurrotes Samtkleid anzuziehen, das sie von den Großeltern geschenkt bekommen hatte und das ihr inzwischen mindestens eine Nummer zu klein war. Als Gail ihr erklärte, sie habe das Kleid in letzter Zeit doch nicht mehr tragen wollen, eben weil sie herausgewachsen sei, blickte Cindy ihre Mutter unverwandt an, schob die Unterlippe vor und wartete auf Gails unvermeidliche Kapitulation.
Jack stand inzwischen unter der Dusche, und der Kaffee war fertig. Beim Frühstück ging es stets geräuschvoll zu. Jack und die
Kinder waren in Eile, und wenn die drei um halb neun das Haus verließen, goß Gail sich noch eine Tasse Kaffee ein und gönnte sich eine Verschnaufpause mit der Morgenzeitung, ehe sie die Küche aufräumte und hinaufging, um die Betten zu machen. Jack setzte die Kinder auf dem Weg zur Arbeit ab. Beide Schulen lagen in der Nachbarschaft, und so kamen die Mädchen zu Fuß heim, Cindy immer in Begleitung einer Klassenkameradin und deren Kindermädchen. Wenn die beiden gegen halb vier nach Hause kamen, wartete Gail schon auf sie. Eine halbe Stunde konnte sie mit den Mädchen besprechen, was sie in der Schule erlebt hatten. Dann begann ihr Klavierunterricht.
Die Zeit, in der ihre Töchter in der Schule waren, verbrachte Gail so wie die meisten Hausfrauen des Mittelstandes. Sie machte Besorgungen, führte Telefonate, kaufte Lebensmittel ein, ging gelegentlich zum Friseur, traf sich mit einer Freundin zum Mittagessen, erledigte auf dem Heimweg noch einiges, bereitete zu Hause das Abendbrot vor und wartete auf die Rückkehr ihrer Familie. Hätte man sie aufgefordert, ihr Leben zu beschreiben, wie es gewesen war, bis sie an jenem sonnigen Aprilnachmittag um genau siebzehn Minuten nach vier in den Tarlton Drive einbog, so hätte Gail Walton sich als typische Vertreterin der amerikanischen Durchschnitts-Hausfrau bezeichnet: mittleren Alters, Angehörige der Mittelschicht und von neutraler Gesinnung. Ihr war durchaus bewußt, daß praktisch all ihre Freunde eine solche Charakterisierung scheuen würden, und doch umfaßte sie alle Elemente eines Lebensstils, in dem Gail sich geborgen fühlte.
Sie empfand keine Sehnsucht nach ewiger Jugend. Ihre Mädchenjahre hatte sie nicht gerade in bester Erinnerung. Da sie schüchtern war und einen flachen Busen hatte, war sie von den umschwärmten Cliquen in ihrer Schule nie akzeptiert worden. Die Jungen, die Gail anhimmelte, behandelten sie wie Luft. Erst seit sie über dreißig war, fühlte Gail sich wirklich wohl in ihrer Haut. Sie war vermutlich die einzige aus ihrem Bekanntenkreis, die sich auf ihren vierzigsten Geburtstag freute. Jedenfalls war
ihr bisher die mid-life-crisis erspart geblieben, unter der all ihre Nachbarn zu leiden schienen. Sie war weder von ihrem Schicksal frustriert, noch langweilte sie ihr ruhiges, nicht sonderlich abwechslungsreiches Leben. Gail war belesen, hielt sich über aktuelle Ergebnisse auf dem laufenden und gewann zusehends Vertrauen in ihre Fähigkeit, bei jedem Gespräch mithalten zu können. Sie gehörte keiner Partei an. Weder die Unruhen der sechziger Jahre noch der Vietnamkrieg hatten sie ins Fahrwasser der Radikalen zu ziehen vermocht, was wohl an ihrer Schüchternheit lag und an einer angeborenen Abneigung gegen harte Konfrontation und Ausschreitungen. Den einzig extrem anmutenden Schritt ihres Lebens hatte Gail unternommen, als sie das College im Jahr vor der Abschlußprüfung verließ, um Mark Gallagher zu heiraten. Sie bedauerte es oft, keinen akademischen Grad zu besitzen, allerdings nicht genug, um zurück auf die Universität zu gehen und das Versäumte nachzuholen. Sie gehörte keinem Club und keiner Kirche an. Sie respektierte das Recht eines jeden, nach eigener Fasson selig zu werden, und erwartete von den anderen die gleiche Rücksichtnahme für sich. Ihre Freunde bewunderten ihren inneren Frieden und ihre heitere Gelassenheit. Man sah in ihr die
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