045 - Schizophrenia - Nächte des Wahnsinns
Mit
der aufgezogenen Spritze in der Hand näherte er sich der weißen Tür am Ende des
langen Korridors. Die Schritte des Pflegers hallten laut und unheimlich durch
den Gang. Neonröhren an der kahlen Decke verströmten ihr ungemütliches, kaltes
Licht und leuchteten den Flur in der Nervenheilanstalt von Mombello schattenlos
aus. Der Verputz an den Wänden war schmutzig und blätterte ab. Der Boden zeigte
Risse in den alten, ausgewaschenen und porösen Platten, in denen sich der
Schmutz gesammelt hatte.
Hinter
der Tür mit der Nummer 23 wurde Paolo Rasolini in Sicherheitsverwahrung
gehalten. Rasolini, 28, stammte aus Rom und war von einem Gericht rechtskräftig
wegen mehrerer Frauenmorde verurteilt worden. Das Gericht bescheinigte ihm
Unzurechnungsfähigkeit und schickte ihn lebenslang in eine Anstalt, um künftig
Vorfälle ähnlicher Art auszuschließen.
Wer
Paolo sah, glaubte nicht, daß er die Verbrechen begangen hatte. Aber den
grausamsten Mördern sah man mitunter ihre Veranlagung nicht an. Paolo Rasolini
lebte seit drei Jahren in der Zelle, durfte täglich auf dem streng bewachten
Hof spazieren gehen und erwies sich als ein ruhiger, nachdenklicher Gefangener,
mit dem es eigentlich keine Probleme gab. Aufkommende Probleme wurden auch
dadurch unter Kontrolle gehalten, daß Rasolini aufgrund seiner Krankenakte
ständig mit starken, erregungsdämpfenden Mitteln behandelt wurde. Sie
veränderten seine Psyche, machten ihn müde und träge. Rasolini war in diesem
Haus längst kein Sicherheitsrisiko mehr, das wußte jede Krankenschwester, jeder
Pfleger und Wärter, die mit ihm zu tun hatten.
Gegen
zehn Uhr abends, so stand es auf dem Fahrplan , bekam Rasolini seine
letzte Injektion. In dieser Abteilung waren die Türen zweifach gepolstert, und
nur direkte Kontaktpersonen besaßen einen Schlüssel. Der Pfleger, der
regelmäßig seinen Nachtdienst verrichtete, machte sich bei Rasolini schon lange
nicht mehr die Mühe, einen Blick durch das Guckloch zu werfen, um sich einen
Eindruck vom Zustand des Kranken zu machen. Der Mann mit der Spritze wußte, daß
Rasolini längst schlief! Schwester Marina, eine hübsche blonde Frau mit langem
Haar und dem Gesicht einer Madonna, war die letzte, die mit Paolo gesprochen
und ihn versorgt hatte. Ihren allabendlichen Bericht hatte der Pfleger bei
Beginn seines Dienstes routinemäßig überflogen. Keine besonderen
Vorkommnisse...
Er
schloß die Tür auf. Das Notlicht oben in der Wand brannte schwach und gab dem
Eintretenden die Möglichkeit, sich sofort über die Räumlichkeit zu informieren.
Ein spartanisch eingerichteter Raum mit Toilette und Waschbecken. Die Wände
waren nicht zusätzlich gepolstert. Ein Mann wie Rasolini bekam keine
Tobsuchtsanfälle. Der Pfleger überschritt die Schwelle und... prallte zurück
wie vor einer unsichtbaren Wand. Auf dem Bett lag zwar jemand, aber das war
nicht Paolo Rasolini, sondern eine Frau! Die Beine waren weit von sich
gestreckt, die Arme hingen schlaff zu beiden Seiten der harten, primitiven
Liege herunter. Die Frau trug ihre weiße, blutbesudelte Schwesterntracht. Um
wen es sich bei der Toten handelte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen,
denn die Leiche hatte keinen Kopf mehr...
●
Der
Mann stand drei Sekunden wie versteinert. Dann löste er sich mit einem Ruck aus
dem Bann. Der Pfleger lief in den Raum und hielt die Spritze wie eine Waffe
umklammert, als wolle er sich gegen einen vermeintlichen Gegner, der sich nur
hier verborgen halten konnte, zur Wehr setzen. Aber da war niemand mehr…
In
der winzigen Kammer gab es kein Versteck, in das man kriechen konnte. Selbst
unter die hochbeinige Liege fiel beim Eintreten sofort der Blick, und nachdem
der Pfleger das furchtbare Bild in sich aufgenommen hatte, suchten die Augen
automatisch unter der Liege. Dort hockte aber niemand...
Er
glaubte zu wissen, wer die Tote war. Schwester Marina... sie war zuletzt mit
Paolo Rasolini zusammengetroffen. Doch dem Pfleger fiel auch sofort der
Widerspruch auf. Marina hatte ihren Abschlußbericht noch verfaßt und war dann
gegangen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Der Mann rannte aus dem Zimmer
und verschloß es hinter sich, um anderen Insassen der Nervenheilanstalt, die
frei herumlaufen durften, keine Gelegenheit zu geben, einen Blick in den Raum
zu werfen.
Der
große, breitschultrige Mann kehrte in den kleinen Raum zurück, in dem er seine
Nachtwache verbrachte. Die Umgebung wirkte nicht weniger kahl, bedrückend
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