Lebt wohl, Genossen!
Elite. Es ist kein Geheimnis, dass die Krise der Führungsriege, die wegen prinzipienloser Machtkämpfe ausbrach, geschickt von ausländischen Geheimdiensten und ideologischen Zentren missbraucht wurde.»
Es gibt aber nicht nur Selbstrechtfertigungen und Verschwörungstheorien über die Gründe des Untergangs der Union, sondern auch ambivalente Äußerungen wie die des Moskauer Patriarchen Alexij II: «Obwohl ich begreife, dass der Zerfall der Sowjetunion die Folge einer totalitären Nationalpolitik war, die zudem auf einer militanten Gottlosigkeit gründete, muss ich dennoch sagen, dass die Spaltung zwischen uns für die absolute Mehrheit der Bevölkerung der Gemeinschaft tief unverständlich und naturwidrig bleibt. Sie erstreckte sich nämlich über jedes Volk, über viele Familien, über verwandtschaftliche Beziehungen, über gemeinsamen Glauben, gemeinsame Kultur, gemeinsame Geschichte und letztendlich – über die Herzen der Menschen.» Schließlich ein Satz des ukrainischen Parlamentspräsidenten Alexandr Moroz: «Wer den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz, wer aber die Meinung vertritt, sie könne wiederhergestellt werden, hat kein Hirn.»
D IE W ELT NACH DER S OWJETUNION
Selbstverständlich ging es bei diesen Urteilen nicht nur um die Supermacht, die bereits der Vergangenheit angehörte, sondern auch um eine Bilanz ihrer historischen Leistung. Sie hatte versucht, den Kapitalismus weltweit durch eine Ordnung ohne Ausbeutung abzulösen – eine Vision, die ihre Wurzeln in der französischen Aufklärung und Revolution hatte und die zusammen mit den kommunistischen Diktaturen gescheitert war. Sehr viele Menschen glaubten an dieses Ideal, selbst wenn sie die Methoden und die Ideologie seiner «Verwirklichung» ablehnten. Gleichzeitig ging die Freiheit für die Völker der ehemaligen UdSSR und Osteuropas mit dem enormen Schock der Transformation einher. Einer, der niemalsein Anhänger des kommunistischen Systems war, der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, fand hierfür in seinem «Galeerentagebuch» vom März 1990 bewegende Worte: «Ich habe die Auflösung des Konzentrationslagers Buchenwald 1945 gesehen, den Ausbruch des roten Terrors 1948, seinen Zusammenbruch 1956, seinen Wiederausbruch 1957 usw. Immer das gleiche Schauspiel! Und das Wichtigste: Nur weil roter Terror und Bolschewismus aufgehört haben, müssen wir noch lange nicht denken, dass die Vereitelung des sogenannten Sozialismus nicht die größte menschliche Niederlage des Jahrhunderts wäre.»
Die postsowjetische Welt ist von einem unstrittig positiven Bild weit entfernt. Zweifelsohne gehörten die Schaffung von demokratischen Institutionen und die Sicherung bürgerlicher Grundfreiheiten auf einer Fläche von mehr als 25 Millionen Quadratkilometern sowie der Beitritt der ehemaligen Ostblockländer in die EU zu den wichtigsten historischen Ereignissen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber dieser Prozess ist bei Weitem nicht abgeschlossen und hat zudem neue, ungeahnte Probleme in den befreiten Ländern geschaffen. Vor allem aber hat das Ende der Konfrontation der Blöcke zu keinem stabilen und dauerhaften Friedenszustand in der Welt geführt. Mittlerweile warten ökologische, ökonomische und soziokulturelle Probleme weltweit dringend auf ihre Lösung.
N ACHWORT
Wir haben bei der Entstehung dieses gesamteuropäischen Kulturprojekts viel diskutiert. «Lebt wohl, Genossen!» sollte neue Maßstäbe in der Geschichtsaufarbeitung setzen und mehr als nur die Addition seiner einzelnen Elemente sein. Das Gesamtprojekt besteht aus einer internationalen TV-Reihe mit über 16 beteiligten Fernsehstationen in Ost- und Westeuropa, dem größten historischen Webformat, das derzeit in Europa in Produktion ist, einer europaweiten Veranstaltungsreihe und diesem in vielen Ländern erscheinenden Buch.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion kam unvorhergesehen. Kein Politiker, kein Dissident und kein Geheimdienst hatte mit einem so schnellen Ende gerechnet. Es bedeutete die Auflösung eines riesigen Reiches und das Ende der über vierzigjährigen europäischen Teilung. Die Ideengeschichte des real existierenden Sozialismus und der Traum vom Kommunismus wurden hiermit endgültig infrage gestellt.
Für mich als Filmemacher und international tätiger Produzent stand am Anfang ein großes Filmprojekt – ein Sechsteiler mit dem Kulturkanal ARTE – im Zentrum. Mein französischer Koproduzent Olivier Mille und ich saßen am Vorabend
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