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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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I.
K OSMISCHE E RFOLGE, IRDISCHE S ORGEN
 ( 1975–1980 )
    War das edle Römerreich auch schon fast zerfallen,
so bewahrt’ es doch den Schein – Ordnung sei in allem!
Caesar stand an seinem Platz, Mitstreiter daneben,
und das Leben war so schön – laut Berichten eben.
    Bulat Okudshawa, Barde, 1979
    Am 15. Juli 1975 startete das Raumschiff Sojus mit den Kosmonauten Alexej Leonow und Walerij Kubassow vom Kosmodrom Baikonur. Fast gleichzeitig machte sich die amerikanische Apollo-Raumfähre mit Tom Stafford, Vance Brand und Deke Slayton auf den Weg ins All, wo es wenige Stunden später zum historischen Andockmanöver und zum Handschlag zwischen sowjetischen Kosmonauten und amerikanischen Astronauten kam. Aus Anlass dieser Begegnung führte Philip Morris für sowjetische Verbraucher eine neue, edle Filterzigarette namens «Sojus-Apollo» ein.
    Als die sowjetischen Kosmonauten aus schwindelerregenden Höhen auf die damalige Erdkugel hinunterschauten, erblickten sie einen Planeten, auf dem der Weltkommunismus seine höchste Ausdehnung erreicht hatte. Er verfügte über zahlreiche Ableger und Einflusssphären in Asien, Afrika und Lateinamerika, während die USA ihre größte Nachkriegsniederlage in Vietnam erlitten hatten und zunehmend mit innenpolitischen Schwierigkeiten kämpften – so zum Beispiel dem Watergate-Skandal, der zum Sturz des Präsidenten Richard Nixon führte. Der größte Erfolg der Sowjetunion bestand jedoch in der Stabilisierung ihrer europäischen Position. Insbesondere die Regelung der «deutschen Frage» machte den Weg zur KSZE-Konferenz von Helsinki im August 1975 frei. Die in der Schlussakte der Konferenz von 35 Staaten bestätigte Nachkriegsordnung brachte zwar keine vollständige Entspannung, aber zumindest eine wackelige «Waffenpause» im Kalten Krieg – besser gesagt eine Rauchpause, ein Zurücklehnenmit der Zigarette «Sojus-Apollo» im Mund. Für die Sowjets bedeutete Helsinki vor allem die Legitimierung des Einflusses über ihre Satelliten.
    Entspannung im Weltall – sowjetische und amerikanische Astronauten 1975 mit dem Modell der Sojus-Apollo
    Auch innenpolitisch hatte die Kommunistische Partei mit ihrem Parteichef Leonid Breschnew Mitte der Siebzigerjahre den Zenit ihrer Macht erreicht. Breschnew hatte 1975 bereits die elf Jahre dauernde Amtszeit seines Vorgängers Nikita Chruschtschow überrundet, und man begann mit der Kanonisierung seiner «Ära». 1976 wurde er zum Marschall, ein Jahr später zum Staatschef ernannt, und zu seinem 70. Geburtstag veranstaltete man eine große Feier. 1978 wurden seine drei «Werke» veröffentlicht, allesamt von Journalisten zu Memoiren aufgebauschte Interviews, für die er 1979 sogar mit dem literarischen Leninpreis ausgezeichnet wurde. Dieser bescheidene Personenkult – die Menschen sprachen von «Kultchen» – schien ihm zu schmeicheln.
    Ihren Ausdruck fand diese «goldene Ära» in einem populären Schlager,der das gewachsene Selbstbewusstsein des Homo sowjeticus demonstrieren sollte: «Meine Anschrift hat kein Haus und keine Straße./Meine Anschrift heißt Sowjetunion». Entsprechend der kommunistischen Tradition sollte auch die Ära Breschnew durch grandiose Bauten verewigt werden. Eines der wichtigsten Projekte war die Baikal-Amur-Magistrale (BAM), eine modernisierte Version der Transsibirischen Eisenbahn. Dafür wurden neben normalen Arbeitskräften massenhaft Jugendbrigaden mobilisiert.
    Ein Souvenir: das Sojus-Apollo-Emblem
    Von seinen Nachfolgern wurde Breschnews Herrschaft wegen der Stagnation kritisiert, die auf Russisch «sastoj» heißt. Allerdings mutierte dieser verächtliche Ausdruck angesichts der enormen Schwierigkeiten der Neunzigerjahre im Volksmund zu «sastolje», was «gedeckter Tisch» bedeutet. Die Lebensqualität, die sich in Essen und Trinken manifestierte, wurde 1976 durch die bereits sechste Ausgabe des Standardwerks «Buch über schmackhafte und gesunde Nahrung» propagiert, eine Rezeptsammlungin Millionenauflage. Vor allem in Großstädten wie Moskau und Leningrad versuchte man die alte Restaurantkultur zu beleben. Gleichzeitig begann man mit Hotelneubauten, darunter das Großhotel Rossija und die Intourist-Kette, und öffnete sich dem Tourismus – inklusive dem Gruppentourismus nach Moskau, Leningrad, der Krim, dem Kaukasus und nach Usbekistan. Parallel dazu wurde das Devisenladennetz «Berjoska» ausgebaut, und nach 1975 konnte man an einigen ausgewählten Orten führende Westzeitungen erwerben.

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