Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
Vom Netzwerk:
nachvollziehen. Sicher ist nur, dass Papa und Onkel Willi sich im Kollegium ihrer ersten Schule kennengelernt haben. Mein Vater war seit jeher ein Magnet für leicht verwirrte Gestalten, alle seine Freunde und Kollegen waren ein bisschen schräg und hatten irgendwie einen an der Meise oder zumindest einen außergewöhnlichen Spleen. Auch mein Vater, der »Leader of the Gang«, war mit einer Menge an perfiden Manierismen und Eigenheiten gesegnet, besonders wenn es um Germanistik und die deutsche Sprache ging. Außerdem fehlte ihm manchmal ein Mindestmaß an menschlicher Empathie. Ich glaube, er meinte es gar nicht böse, aber oft nutzte er die Schwächen anderer fast schon willfährig zu seiner Belustigung aus, so auch die grausame Sparsamkeit von Onkel Willi.
     
    Es war ein grauer Herbsttag in den ausgehenden Achtzigerjahren, das triste Bild von Gelsenkirchens Straßen, das immer ein wenig an ein postapokalyptisches Postkartenmotiv erinnerte, wurde durch einen grellen Klecks aufgehellt. Der »Zirkus Sandolino« war in der Stadt und mit ihm eine Menge Clowns und Giraffen sowie ein Nilpferd. Mein Vater hatte Onkel Willi überredet, mit uns in den Zirkus zu gehen, vielleicht, um dessen steigendem Hospitalismus entgegenzuwirken, vielleicht auch, um mal wieder eine der Katastrophen zu erleben, die Wilfried mit der Zielsicherheit eines Hühnerhabichts anzog.
    Schon der Kauf der Karte war ein Problem. Dass Onkel Willi mit einer Kiste voller Münzrollen angereist war und sofort mit der lustig geschminkten Kassenkraft, die optisch wie eine Mischung aus Claudia Roth und einem Indianerhäuptling anmutete, in Streit geriet, überraschte wenig. Dass Häuptling Claudia uns dann auf Wilfrieds Drängen alle drei zum vergünstigten Kinderpreis reinließ, schon eher, wobei sich Letzteres auch damit erklärt, dass wir die billigsten Plätze bekamen, direkt hinter einem der stählernen Pfeiler des Zirkuszelts. Durch dessen Löcher versuchten wir der Vorstellung zu folgen, wie durch ein Schlüsselloch grinste uns dort die grelle Wirklichkeit des Zirkusgeschehens entgegen, alles jedoch nur halb so hell und halb so laut.
    Für mich als Kind war das nicht genug. Ich wollte Zirkus nicht in der vakuumverpackten Sparversion meiner Begleiter sehen, sondern direkt vorn an der Begrenzung der Manege stehen, die Sägespäne und den Kameldung riechen und auf einer riesigen Zuckerwatte kauen.
    Statt einer riesigen Zuckerwatte packte Onkel Willi eine Tüte abgelaufenen »Golden-Toast« aus, den man ihm nach langem Quengeln wegen des Verfallsdatums an der Supermarktkasse gratis überlassen hatte. Das Brot war so trocken, dass die meisten Enten locker daran erstickt wären. So viel Mitleid hatte das Schicksal mit uns jedoch nicht, also kauten mein Vater, Willi und ich die restliche Vorstellung lang auf den verbliebenen Toastbrotscheiben herum und dachten an etwas Süßes.
    Leider war die »übrige Vorstellung« für uns nicht so lang wie für den Rest des Publikums, da wir nach etwa einer halben Stunde »lebenslanges Besuchsverbot für den Zirkus Sandolino« erteilt bekamen, was nicht nur in meinem jungen Leben, sondern auch für Wilfried und meinen Vater ein Novum war.
    Die Show hatte eigentlich ganz gut begonnen, zwei Clowns bespritzten sich fröhlich mit Wasser, das sie aus einem Elefantenrüssel drückten, eine Gruppe mongolischer Schlangenmädchen verbog sich zu den abstrusesten Gestalten, und auch das Toastbrot begann mit der dritten Scheibe einen gewissen Geschmack zu entwickeln. Wilfried verhielt sich ungewöhnlich ruhig, das Verhältnis dessen, was er für seine Eintrittskarte ausgegeben hatte, und dessen, was ihm hier geboten wurde, schien positiv genug, um den kleinen Irren, der in seinem plumpen, behäbigen Körper wohnte, zufriedenzustellen.
    Doch dann öffnete sich der Vorhang, ein gleißendes Licht wanderte über die Zuschauerreihen, durchquerte die leere Manege und blieb genau auf dem riesigen Kopf eines Tieres stehen, das mir zu dem Zeitpunkt nicht mal bekannt war. Sein grauer, absurd großer Schädel wankte langsam und gleichmäßig hin und her, mit halb geöffneten Augen schien es zum Teil im Diesseits zu sein, der Rest seines Bewusstseins schwebte irgendwo über der Manege und graste wohl selig im afrikanischen Buschland. Irgendwie war es Onkel Willi ähnlich, wie er da mit halb geöffneten Augen das knochentrockene Toastbrot bespeichelte und nur zur Hälfte der Vorstellung folgte, weil er vermutlich mit seiner linken Hemisphäre

Weitere Kostenlose Bücher