Lehrerkind
Zeilen:
»Lieba Papa, bite enschuldigee, dass ich dich heute blödman genannt hab, es wahr nicht so gemeint. Ich bin manckmal sehr undankbar, das tut mir leit. Ich habe dich ser lieb,
BASTIAN«
Diesen ersten Brief meines Lebens hatte ich selbst geschrieben. Es war eine schriftliche Entschuldigung dafür gewesen, dass ich ihn am Tag zuvor einen Blödmann genannt hatte. Er wiederum hatte sie korrigiert und mit einer Note versehen. Unter meinen zugegebenermaßen orthografisch ziemlich fragwürdigen Zeilen fand sich folgendes Urteil:
»Dein Sprachbild sowie die Rechtschreibung lassen noch sehr zu wünschen übrig, die Entschuldigung ist ohne größere Begründung abgefasst, insgesamt gerade mal ein schwaches Ausreichend. Bastian, das muss besser werden!«
Weil mein Vater die »Mini Playback Show« als Absender gewählt hatte, hoffte ich beim Aufreißen des Kuverts inständig, endlich eine Einladung in Marijke Amados Zaubertunnel zu bekommen. Stattdessen fand ich nur seine schriftliche Kritik an meiner schlechten Rechtschreibung vor.
Dabei hatte ich schon vor Monaten ein Video an RTL geschickt, auf dem ich mit aufgemaltem Schnurrbart und in weißem Unterhemd zu Queens »I Want to Break Free« in unserem Garten tanze. Die Nachbarn nennen mich deswegen heute immer noch den »Manndecker«.
Leider habe ich es nie in Marijkes Zaubertunnel geschafft, nur mein Deutsch ist über die Jahre als Lehrerkind ständig besser geworden, auch weil mein Vater mir für meinen sprachlichen Ausdruck und für mein Verhalten täglich eine Note gab. Bei uns zu Hause herrschte an manchen Tagen eine Bewertungsdichte wie beim Eiskunstlauf – nur dass die strenge Eistanzlehrerin keine Russin mit Dutt und Schnurrbart war, sondern meine meist mit Bastelkleber verschmierte Mutter. Bei uns zu Hause waren Kopfnoten lange eingeführt worden, bevor der Gesetzgeber auf diese beknackte Idee gekommen ist. Und schuld daran war ganz allein ich! Ich hatte mich in der Hoffnung auf das schnelle Geld auf diese Regelung eingelassen, denn für jeden Tag, an dem ich mich unauffällig verhielt und mein Deutsch »altersangemessen« war, sollte ich ein »Sehr gut« und eine Mark bekommen. Für Tage mit einem »Gut«, »Befriedigend« oder »Ausreichend« ging ich leer aus; waren mein Verhalten und meine Aussprache unangemessen, gab es ein »Mangelhaft« und damit fünf Mark Abzug. Jeder halbwegs fähige Betriebswirt hätte ahnen können, dass ich bei diesem System schneller in der Schuldenfalle landen würde, als Peter Zwegat das Wort »Privatinsolvenz« auf ein Flipchart malen kann.
Warum ich meinen Vater einen Blödmann genannt hatte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls hatte er mir den Brief mit der gleichen Ernsthaftigkeit korrigiert, die er ansonsten seinen Klassenarbeiten angedeihen ließ. Als Deutschlehrer hatte er, bewaffnet mit Duden und dem Excalibur des Pädagogen, einem Stabilo in Blutrot, schon ganze Generationen von verdooften Schülern in die deutsche Sprache eingewiesen. Dass da der eigene Sohn zu einem Verbalterroristen verkommen sollte, war nicht akzeptabel.
Also erhielt ich fortan zur Abendbrotzeit meine tägliche Kopfnote, und nach wenigen Wochen war ich bei meinen Eltern so schwer verschuldet, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, einen Job als Parkplatzwächter anzunehmen.
Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Hosentasche.
Immerhin kein »Mangelhaft«, dachte ich und ging in den Garten, um mein zweites Bewerbungsvideo für Marijke aufzuzeichnen.
Die Spezies Lehrerkind
Wer diese Lebensbeichte bis hierher aufmerksam verfolgt hat, wird bereits bemerkt haben, dass nicht jedes Lehrerkind dem anderen gleicht. Vielmehr habe ich in meinem lebenslangen Feldversuch herausgefunden, dass sich ein Lehrerkinddasein in drei Härtegrade einteilen lässt. So wie es also ganz unterschiedliche Formen von Fußpilz gibt, existieren auch unterschiedlich starke Ausprägungen des Syndroms Lehrerkind.
Lehrerkind Stufe 1
Merkmale: Kind eines Lehrers/einer Lehrerin und eines Angehörigen einer anderen Berufsgruppe, häufig aus einem ähnlich didaktischen Bereich: Universitätsangestellter, Anwalt, Arzt. Lehrer brauchen zur Paarung jemanden, der zumindest ein wenig nach Burn-out und Verzweiflung riecht, deshalb werden auch Sachbearbeiter von Sozial- und Finanzämtern häufig Lebenspartner von Pädagogen. Wichtig: Das Lehrerkind der Stufe 1 besucht nicht die gleiche Schule wie der eigene Elternteil.
Besondere Kennzeichen: Lebt
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