Lehrerkind
verändert und werden wohl auch mit neunzig noch den roten Korrekturfineliner für mein Leben dabeihaben. Sie können nicht anders, es liegt in ihren Genen, sie gehören einer menschlichen Splittergruppe an, die ihre Kinder schon von Berufs wegen zu lebenslangem Versagen zwingt. Meine Eltern sind Lehrer.
Mein Vater blickte von seiner Erbsensuppe hoch und sah, dass ich zornig vor dem Kühlschrank stand. Er lächelte meine Mutter an und begann zu kichern: »Das war lustig«, sagte er, und auch meine Mutter musste lachen. Dann gaben sie sich einen High Five und löffelten weiter ihre Suppe. Unter dem Tisch ließ der Hund leise einen fahren.
Der Spion, der aus dem Lehrerzimmer kam
Meine Eltern trafen schon früh in meinem Leben Entscheidungen, die meiner Abhärtung dienen sollten. So gehöre ich zu dem geringen Bruchteil an Lehrerkindern, die das zweifelhafte Glück hatten, beide Eltern als Lehrer an ihrer eigenen Schule zu haben. Erst meine Mutter in der Grundschule, dann meinen Vater auf dem Gymnasium. Das kam bei meinen Schulkameraden immer riesig an.
Als meine Gymnasialklasse ihre erste Stunde hatte, betonte mein neuer Klassenlehrer natürlich direkt, dass er sich sehr freue, den Sohn eines so engen Kollegen zu unterrichten. Ich verkroch mich unter dem Tisch und versteckte meinen Kopf unter einem Erdkundeatlas, was wohl ein wenig nach Fliegeralarm aussah.
Das Stigma war an mir dran wie ein Rotweinfleck. Ich hatte verschissen.
Wenn er mich schon öffentlich bloßstellen wollte, hätte er auch einfach sagen können: »Das ist euer neue Klassenkamerad Bastian, behandelt ihn gut! Er ist Bettnässer, interessiert sich für Operetten und Ballett und ist sich nach einer geschlechtsangleichenden Operation noch nicht sicher, ob er jetzt schwul oder lesbisch ist. Fußball findet er blöd, Schalke 04 auch, vielmehr interessiert er sich für das Sammeln von Insekten, und seine Mama zieht ihm die vererbten Unterhosen seines Urgroßvaters an, weil die im Notfall schön saugfähig sind. Wir haben ihn vorsorglich für euch mit einem passenden T-Shirt markiert, auf dem das Wort ›Opfer‹ in Neonfarben aufgedruckt ist, damit ihr ihn auch bei schlechten Lichtverhältnissen erkennen und ihm ein ordentliches Pfund in die Fresse hauen könnt.«
Die anderen Kinder blickten mich an, als wäre ich der Antichrist.
Lusche. Mädchen. Spion … die Worte lagen bleischwer über meinem ersten Tag im Gymnasium. Wäre mein Vater nur irgendein unbekannter Lehrer an einer anderen Schule gewesen, hätte man die Einführung meines Klassenlehrers wohl bald vergessen. So aber sah ich neun Jahren entgegen, in denen ich morgens wie der kleine Lord von meinem Vater zur Schule mitgenommen wurde, neun Jahre, in denen meine Mitschüler täglich daran erinnert wurden, dass der dicke Junge mit der teigigen Haut nicht nur der klassische Verlierer, sondern auch ein geheimer Spitzel des Lehrerzimmers war.
Sie hätten meinen Status als Kind von Herrn Bielendorfer allerdings auch ohne direkten Hinweis relativ schnell aufgedeckt, da ich meinem Vater verblüffend ähnlich sehe. Die gleiche rundliche Kopfform, die gleiche Naturkrause und eine Art, zu gehen, die an eine angeschossene Ente auf der Flucht erinnert. Das Einzige, was er mir leider nicht vererbt hat, ist sein sportlicher Körperbau. Meine hängenden Schultern und mein krummer Rücken sehen aus, als wäre dem lieben Gott ein Experiment entsetzlich fehlgeschlagen.
Natürlich sprach sich ziemlich schnell rum, dass mein Vater einen IM in der Schule untergebracht hatte, und Schüler aller Altersklassen begannen ihren Frust an mir auszulassen. Manchmal weil mein Vater ihnen eine schlechte Note gegeben hatte, manchmal weil mein Vater sie ins Klassenbuch eingetragen hatte, manchmal auch nur stellvertretend, als würde ein Treffer in mein Gesicht bei ihm Schmerzen auslösen. Mein Vater wusste nichts von meiner Verwendung als Voodoopuppe, er schien nicht sonderlich viel von meiner Pein zu spüren und machte es auch nicht eben besser, wenn er mich in seinen Deutschkursen mit den tragischen Figuren der Literaturgeschichte verglich. Gern erzählte er vor der ganzen Klasse, sein Sohn sei ein wenig so wie Oskar Matzerath: Er sage nicht viel und mache trotzdem nur Radau. Oder wie das Sams: Ich hätte auch mal Sommersprossen gehabt, und von der Figur her passe es auch ganz gut. So schlich ich, das Matzerath Sams, die nächsten Wochen durch die Schule.
Werther im Kreißsaal
Schon meine Geburt war ein Menetekel
Weitere Kostenlose Bücher