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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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gerade ein paar Gleichungen löste.
    »Oh, ein Nilpferd«, sagte mein Vater, was ich erst für einen Scherz hielt, denn mit einem Pferd hatte das Gezeigte nur so viel gemein, dass der Kopf vorn und der Arsch hinten war. Sonst glich das Tier, das über und über mit borstigen Nadeln gespickt war, eher einem lebendig gewordenen Germknödel. Seine trüben Augen fuhren einmal müde durch den Raum und fixierten dann einen kleinen, farbigen Stahlhocker in der Mitte der Manege. Der Zirkusdirektor brabbelte ein paar Fakten zu dem plumpen Tier durch ein Megafon, wobei hinter unserem Zirkuspfeiler nur ein unverständlicher Sprachbrei ankam, der ein wenig wie ein Telefongespräch unter Muppets klang.
    Das Nilpferd durchmaß mit seinem trägen Körper den halben Raum und trottete gerade auf den Stahlhocker zu. Seine schweren Schritte stampften tiefe Kuhlen in den gelben Sägemehlsand, die Spannung im Saal war zum Zerreißen gespannt, selbst der Posaunist hielt den Atem an und verschonte die Menge mit seinem unsäglichen Gedudel. Als das Nilpferd den Hocker erreicht hatte, stemmte es einen seiner Füße auf das metallene Plateau, und mit einem Ächzen drückte sich der kleine Hocker in den Boden der Manege. In einem unsäglichen Kraftakt wuchtete es das zweite Vorderbein nach vorn und stellte es parallel neben sein dickliches Füßchen auf den Hocker.
    Dann öffnete es sein Maul weit, immer weiter, sodass sein Körper gänzlich hinter der fleischfarbenen Fressklappe verschwand, in der ein paar tiefgelbe, bananenförmige Zähne wahllos verteilt lagen. Plötzlich kam ein Clown schnellen Schrittes in die Manege gelaufen. In seinen Händen hielt er einen monströsen grünen Kohlkopf, der bei jedem seiner Schritte wie ein Pendel aus Gemüse hin und her schwang. Der Clown näherte sich dem Nilpferdmaul, nickte zweimal in die gespannte Zuschauermenge und warf den grünen Ball dann tief in den wartenden Schlund. Das Nilpferd schloss sein Maul und spaltete mit einem lauten Knacken den Kohlkopf entzwei. Dann schluckte es einmal hörbar und stieg wieder von dem kleinen Metallhocker hinab. Es plumpste träge auf den Boden und trabte geräuschlos dem Ende der Manege entgegen, wo sich ein roter Vorhang hinter seinem dicken Hintern verschloss.
    Kurz bevor das fragile Band der Spannung in der Menge zerreißen, die Kinder klatschen und die Erwachsenen wohlig lächelnd in ihre Popcorntüten greifen konnten, sprang Onkel Willi auf und schrie laut:
    »Betrug, Betruuuug! Das Nilpferd kann ja nix! Ich will mein Geld zurück, ich will Vergeltung!«
    Sein Kopf schwoll rot an wie eine Pavianrosette, besonders das Wort »Vergeltung« klang mehr, als wären wir Sympathisanten der RAF und nicht bloß enttäuschte Zirkusbesucher.
    Wilfried fühlte sich durch die Ereignislosigkeit der Darbietung um seinen Einritt betrogen. Ganz unrecht hatte er ja nicht, die öffentliche Verdauung eines Kohlkopfes hatte nicht zwingend Eventcharakter, allerdings hatte (außer ihm) wohl auch keiner erwartet, dass das Nilpferd gleich jodeln würde oder ein Gedicht rezitierte. Für Wilfried war die Enttäuschung aber eine Anstiftung zum zivilen Ungehorsam.
    Mein Vater schloss den Arm um mich und zog mich ein paar Ellen weit weg von dem sonderbaren Mann, der neben uns einen cholerischen Tobsuchtsanfall bekam.
    »Vergeltung, Vergeltung! Das Nilpferd kann ja gar nichts! Wir wollen unser Geld zurück«, schrie Willi und zeigte dabei mit einem Finger auf mich und meinen fremdbeschämten Vater, nur um die Bekanntschaftsverhältnisse auch allen Anwesenden deutlich zu machen.
    Wir wurden dann vom Zirkusdirektor, der immer noch sein farbiges Megafon in Händen hielt, hinauskomplimentiert, ein Teil der Zuschauer glaubte wohl, es würde sich um eine besonders absurde Showeinlage handeln und klatschte Beifall. Onkel Willi riss gewinnend die Hände hoch und machte eine Siegerpose, der Irrsinn war vom Untermieter zu seinem Hausbesetzer geworden.
    Beim Rausgehen entwendete Wilfried noch eine Tüte gebrannter Mandeln, die wir uns teilten, als wir im Regen auf den Bus warteten. Die Mandeln waren zwar kalt, schmeckten aber wie ein kleiner Sieg gegen das System. Jedenfalls für Wilfried. Ich heulte bitterlich.
     

Leben unter dem Rotstift
    Es war Montag der 12.  März 1991, ich hatte soeben den ersten Brief meines Lebens erhalten. Er lag auf dem Wohnzimmertisch und trug als Absender die »Mini Playback Show«. Als ich den Umschlag aufriss und hastig den Brief herauszog, las ich folgende

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