Seelenkuss
1
V ergiss ihn!
Ihre Hände versanken in weichem Gefieder, die mächtigen Schwingen trugen sie höher und höher, ihr Jauchzen mischte sich mit einem Schrei, der an den eines Adlers erinnerte. Sie lehnte sich weiter vor, duckte sich in den Schutz des eleganten Halses, um dem kalten Wind zu entgehen, der ihr die Tränen in die Augen trieb und ihr atemloses Jubeln davonwehte. Weit unter ihr glitzerte das tiefblaue Band des Flusses. Ein Rudel Hirsche floh in den Schatten des Waldes, die Sonne ließ die Mauern von Kahel glänzen, dann legte sich das herrliche Geschöpf, auf dessen Rücken sie saß, in einen weiten Bogen und kehrte zur Erde zurück. Hände streckten sich ihr entgegen, stellten sie wieder auf den Boden, ein zärtlicher Kuss beendete ihr begeistertes Geplapper, warm und tief– bis er zu Frost wurde und Schmerz. Ihr Lachen erstarb. Eis kroch in ihr Blut, ließ es gefrieren. Fahler Nebel verschlang die Lichtung um sie her, die Sonne erlosch. Vergiss ihn! Schreie gellten; dumpf, wie hinter unzähligen Mauern. Sie wollte sich losreißen von dem Schatten, der bis eben noch ein Mann gewesen war. Er hielt sie fest, zwang sie ins Gras, das zu den seidenen Laken ihres Bettes wurde. Vergiss ihn!
Mit einem hilflosen Wimmern krallte sie die Finger in die weiche Decke, versuchte der Kälte zu entgehen, die mit dem leisen Wispern gekommen war– und konnte sich doch nicht bewegen. Vergiss ihn! Die Worte sickerten in ihren Verstand wie finsteres Gift. Der Schatten neigte sich tiefer über sie, Berührungen aus Eis glitten über ihre Haut. Sie versuchte, sie abzuschütteln, sich gegen die kalten Liebkosungen zu wehren. Aufwachen! Aufwachen aus dem Traum, der keiner war. Bald, meine Liebste! Das Gefäß ist fast bereit. Dann bin ich nicht mehr länger schwach. Das raue Flüstern fesselte ihren Geist. Vergiss ihn! Lippen aus Dunkelheit strichen über ihre, hinterließen eine Spur aus geronnenem Reif bis zu ihrer Schläfe. Gedulde dich bis zum nächsten Seelenmond. Dann gehörst du mir! Du wirst zurückkehren. Und noch immer glaubte sie jenseits der Stimme, wie aus weiter Ferne, jene gellenden Schreie zu hören.
Mit einem Keuchen fuhr sie aus dem Schlaf auf. Neben ihr rührte sich die Magd, die sie am Abend gebeten hatte, mit ihr das Bett zu teilen, in der Hoffnung, ihre Wärme würde die Kälte fernhalten, die Nacht für Nacht unter ihre Decken kroch und sie am ganzen Körper zitternd aufschrecken ließ. Doch die Frau drehte sich nur auf die andere Seite und schlief ruhig weiter. Hastig löste sie die verkrampften Fäuste aus den Laken, als ihr bewusst wurde, dass sie die kostbare Sarinseide verzweifelt umklammert hielt. Ein Albtraum! Es war nur ein Albtraum! Blind starrte sie in die Dunkelheit, die nur schwach vom fahlen Mondlicht durchdrungen wurde, versuchte, sich zu erinnern…
Erst als das nebelverhangene silbrige Rund im Bogen des Fensters erschien, klärte sich ihr Blick. Nur noch wenige Tage, dann wäre die bleiche Scheibe wieder voll. Ein Zittern kroch in ihre Glieder bei dem Gedanken, dass sie sich blutrot färben könnte. Noch nie hatte sie einen Seelenmond gefürchtet, doch diesmal konnte sie vor Angst kaum atmen.
2
E in weiterer Mann der Garde war spurlos verschwunden! Müde rieb Réfen sich die Kiemennarben und starrte zur gekalkten Decke seines Dienstzimmers hinauf. Zwei Stunden vor Morgengrauen war er zuletzt von Kameraden gesehen worden. Sie hatten zusammen an einem der Feuerbecken gestanden, um sich in der Kälte, die seit dem letzten Seelenmond jede Nacht zusammen mit einem zähen Nebel in den Mauern von Kahel Einzug hielt, einen Moment aufzuwärmen. Heute Morgen beim Appell hatte er gefehlt und die stundenlange Suche nach ihm war ebenso erfolglos verlaufen wie die nach den Männern, die schon zuvor verschwunden waren– und wie jedes Mal hatten die Torwachen geschworen, der Vermisste sei nicht an ihnen vorbeigekommen.
Vor zwei Tagen hatte er Königin Seloran einen ähnlichen Vorfall gemeldet, so wie schon an mehreren Tagen zuvor. Dass es inzwischen Gerüchte gab, die Männer seien aus Angst vor dem drohenden Krieg davongelaufen, machte alles nur noch schlimmer. Der Gedanke, ihr heute wieder unter die Augen treten zu müssen, ließ ihn unwillkürlich schaudern. Seine Finger schlossen sich fester um den Federkiel, mit dem sie schon eine ganze Zeit unruhig spielten. Und zerbrachen ihn. Bei den Sternen, er war mit ihr und ihrer jüngeren Schwester Darejan aufgewachsen. Nach dem Tod seines Vaters, der
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