Lehrerkind
ist meine damalige Deutung, dass der höchste Wert des Erwachsenseins darin besteht, nicht mehr zum Klo begleitet zu werden, auch heute noch gültig.
Jedenfalls gehörte eine gewisse Festlichkeit zum Usus jeder Einschulung – das hatten mir jedenfalls die Eltern meiner Kindergartenfreunde vermittelt, die schon Wochen vorher ihre Schultornister zu abstrusen Preisen eingekauft, verschiedene Ausstattungssortimente an Schulmaterialien vorbestellt und natürlich den heiligen Gral jeder Einschulung vorbereitet hatten: die Schultüte.
Die Schultüte war für einen Sechsjährigen so etwas wie die Büchse der Pandora, nur dass in dieser Tüte statt den unbekannten Mächten zur Weltvernichtung die unbekannten Geschmäcker zahlloser Süßigkeiten darauf warteten, den kindlichen Zahnschmelz in erheblichem Maße zu zersetzen. Schultüten waren eigentlich nur pimmelförmige Geschenkkörbe für Erstklässler, angefüllt mit Klimbim und allerlei Unbrauchbarem. Doch in der Welt eines Kindes hat der Begriff eine andere Bedeutung. Da hat eine grüne Gummiflitschhand, mit der man Gläser zu sich heranziehen kann, mehr Wirklichkeitsbezug als etwa eine Sonderausgabe von Kafkas »Verwandlung«.
Nur meine Kinderwelt sah anders aus. Meine Schultüte kam nicht aus dem Einzelhandel, der schnöde Glitzerbecher mit winkenden Mickymäusen und hechelnden Hundewelpen vertrieb. Nein, auf der Seite meiner Schultüte stand deutlich lesbar der Aufmacher der »WAZ« vom 17. Juni 1990: »Kommission schließt Ermittlungen zu Tschernobyl-Vorfall ab«.
Meine Eltern waren der Meinung, dass dieser ganze Konsumterror nicht gut für mich wäre, obwohl der im Jahr 1990 sicherlich nicht annähernd die Ausmaße der Jetztzeit hatte, wo jedes Kind bereits mit fünf Jahren ein Hannah-Montana-Tattoo neben dem Bauchnabel hat und Harry Potter auswendig rezitieren, jedoch nicht die Namen seiner Geschwister fehlerfrei aussprechen kann. Meine Eltern beschlossen deshalb, mich meine Schultüte in Heimarbeit selbst anfertigen zu lassen.
Da meine Fähigkeiten auf der Ebene des Bastelns ähnlich ausgeprägt waren wie meine Fähigkeiten im musischen oder sportlichen Bereich, sah das Ergebnis, das ich nach zwei Tagen am heimischen Basteltisch (Lehrereltern besitzen so etwas!) produziert hatte, ein wenig wie die Nachgeburt von Bernd dem Brot aus. Aus einem grauen Berg Pappe ragten schräg zwei klebstoffverschmierte Spitzen heraus – das Ganze hatte etwas von einem Zwergelefanten mit Erektion. Meine Eltern mussten bei der ersten Beschau meiner selbst gemachten Schultüte spontan lachen und dachten, ich hätte zunächst einen Scherz gemacht. Als ich ihnen dann aber nichts anderes als wirkliches Ergebnis meiner Arbeit präsentierte, schlug ihre Heiterkeit in Entsetzen um. Zuerst überlegten sie, mich an einen Neurologen zu geben und meine Hand-Augen-Koordination überprüfen zu lassen, dann entschieden sie sich, das zu tun, was alle guten Eltern tun, wenn ihr Kind offensichtlich unfähig ist. Sie machten es selber.
Leider waren zur Produktion der Schultüte nur noch ein paar Reste meines Bastelwahnsinns übrig, also ergänzte meine Mutter unser Werkmaterial durch Zeitungspapier und das hohle Gerippe einer Sankt-Martins-Laterne, die meine Eltern mir nach einem ähnlichen Vorfall widerwillig gekauft hatten.
Mein Vater seilte sich von der Bastelaktion schon früh ab und berief sich auf die künstlerischen Fähigkeiten meiner Mutter, die sich als Grundschullehrerin ja wöchentlich im Kunstunterricht mit den dreiflügligen Schmetterlingen ihrer Schüler beschäftigen musste. Also machten sich meine Mutter und ich allein daran, die »schönste Schultüte zu produzieren, die je ein Kind gehabt hat«, so war jedenfalls ihr Motivations-Mantra, das tatsächlich ein wenig hoffnungsvolles Feuer in meinen kleinen Kinderaugen weckte.
Was nach ein paar Stunden dabei herauskam, löste jedoch zuerst weitere Heulkrämpfe meinerseits aus und ließ mich dann für die Verwendbarkeit meines ersten Entwurfes plädieren, auch wenn dieser aussah, als hätte Christo eine echte Schultüte mit Klopapier verhüllt. Meine Mutter, die durch ihren Beruf eine Meisterin in der Beschönigung mangelhafter Bastelergebnisse war, berief sich darauf, dass meine Schultüte etwas »ganz Besonderes« sei. Ich hielt dagegen, dass meine Kindergärtnerin das auch immer über Jakob Bergmann gesagt habe, einen Jungen, der ständig Erstickungsanfälle bekam, weil er versuchte, die Spielknete zu essen.
Meine Mutter
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