Tote Maedchen schreiben keine Briefe
1. Kapitel
Es lief gerade ein wenig besser, bis ich einen Brief von meiner toten Schwester erhielt.
Das hat mir mehr oder weniger den Tag vermiest.
Es war Freitag, die Sonne schien, aber sie knallte noch nicht so erbarmungslos vom Himmel wie normalerweise in Texas.
Mom hatte eine gute Nacht gehabt. Nur eine Schlaftablette. Also war sie nur halb so benebelt wie sonst, wenn sie herumstolperte, vor sich hin murmelte und weinte. Von Dad hatten wir schon eine Weile nichts gehört. Ja, es war ein ziemlich guter Tag.
In der Mittagspause bin ich von der Schule heimgehetzt. Mr Preston, der Schuldirektor, wusste von den Problemen mit meiner Erzeugerfraktion und billigte es, dass ich mittags das Schulgelände verließ und zu Hause aß. Das lief dann immer folgendermaßen ab: Ich kam heim, sah nach Mom und ging die Post durch, aß mein Mittagessen und stellte eine Portion für Mom bereit, erledigte notwendige Telefonate, fälschte eine Mitteilung von Mom, die bestätigte, dass ich zu Hause gewesen war, und flitzte dann zur Schule zurück, wo ich mir das bescheuerte Gejammer der anderen Kids anhören musste, weil sie abends nicht lang genug ausgehen dürfen und ähnlichen Mist.
Die Ärmsten.
Heute lagen im Briefkasten ein Haufen weißer Fensterbriefe und ein paar Kataloge. Als ich den ganzen Packen auf einmal herausholte, rutschte ein kleiner gelber Umschlag aus dem Stapel und segelte auf den Boden. Anmutig. Ganz wie meine Schwester.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den blassgelben Umschlag. Das kann nicht sein, dachte ich. Sie ist tot. Tote Mädchen schreiben keine Briefe. Tote Mädchen schicken ganz sicher keine Briefe auf gelbem Briefpapier. Tote Mädchen erscheinen einem vielleicht im Traum, man erhält seltsame Phantomanrufe, aber sie schreiben keine Briefe.
Allerdings hatte Jazz ein Talent für dramatische Auftritte. Und sie schrieb gern Briefe. Und sie verwendete gelbes Briefpapier. Gelb wie Jasmin, die Blume, nach der sie benannt war.
Ich bückte mich und griff mit spitzen Fingern die Kante des Umschlags. Als ich ihn umdrehte, sprang mir der Absender entgegen: »Jasmine.« Nichts weiter.
Das sah ihr ähnlich. Die ganze Welt hat schließlich zu wissen, wo Jazz Reynolds sich aufhält.
Ich blinzelte in die Sonne und sammelte mich. Alle wissen, wo Jazz ist. Tot, aber nicht begraben. Der Brief musste von dem Brand verschont worden und dann verloren gegangen sein, um schließlich Monate später hier einzutreffen. Ich atmete aus. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. Mein Herz schlug wieder. Alles war bestens.
Ich ließ das kleine Rechteck in die Tasche gleiten und eilte zum Haus. Mom brauchte den Brief nicht zu sehen. Wer weiß, welche Mengen an Antidepressiva nötig wären, damit sie den Schock verkraftete. Auf den Stufen blieb ich kurz stehen. Ich sollte ihn wegwerfen. Wem würde der Brief schon helfen? Briefe von toten Mädchen enthalten nie gute Neuigkeiten.
Aber er könnte das Letzte sein, was wir je von Jazz erhalten. Dieser Gedanke nagte an meinem Gewissen. Ich seufzte und trat durch die Küchentür.
»Mom?«
»Ich bin hier.« Moms Stimme zitterte und klang, als befände sie sich unter Wasser. Ich wusste, dass sie geweint hatte. Schon wieder. Immer noch.
Ich folgte der Stimme und ging ins Wohnzimmer. Mom saß in ihrem beigefarbenen Chenille-Bademantel auf dem Sofa. Ihr selbst geschnittenes Haar war ungewaschen und sie trug rosa-weiße Kaninchen-Puschen. Ein Geschenk von Jazz. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt. Tränen rannen ihr über die Wangen, die Finger, dann die Handgelenke hinunter und durchweichten die Ärmelaufschläge des angeranzten Bademantels. Auf dem Schoß lag ein Scrapbook. Es war das Album, das Jazz angelegt hatte, um darin Erinnerungen und Andenken zu sammeln.
Ich ging neben der Couch mit der geschwungenen Rückenlehne und dem braunen Velourssamtbezug in die Hocke. Ursprünglich war es ein Brokatstoff gewesen, aber ich hatte mich als Baby so oft darauf übergeben, dass die Couch neu bezogen werden musste. Der jetzige Bezug war folglich so alt wie ich – vierzehn Jahre - und wies jede Menge Abnutzungsspuren auf. Das Sofa verdeutlichte die Unterschiede zwischen Jazz und mir. Ich kannte die Fotos von Jazz, wie sie gelassen auf dem smaragdgrünen Brokat thronte. Jetzt war der Bezug zweckmäßig und hob sich kaum von dem dunklen Holzboden ab.
Ich berührte Moms Handgelenk, damit sie wusste, dass ich bei ihr war.
»Mom, du hast
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