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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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erbrachen den Inhalt meines ABC-Schützen-Accessoires auf den Pausenhof. Die anderen Kinder und Familien verstummten plötzlich, alle starrten auf den grauen Kasten in meinem Arm, der meine Geschenke auskotzte. Meine Eltern hatten tatsächlich Süßigkeiten gekauft. Karamelle, Plombenzieher und anderes Süßzeugs schossen aus der Klebeöffnung, und dann fiel noch ein Buch heraus, auf dessen Cover ein riesiger Käfer abgebildet war, der sich in der Ecke eines leeren Raums zusammenkauerte. Sie hatten mir ernsthaft Kafkas »Verwandlung« in die Schultüte getan. Ich bückte mich und schaute auf den vergilbten Bucheinband, konnte jedoch nichts damit anfangen. Ich würde erst später erfahren, dass es sich bei der »Verwandlung« um eine Art »Raupe Nimmersatt« für Bildungsbürgerkinder handelte. Mein Vater filmte stolz, wie ich das Buch vom Boden aufhob, und erläuterte für den geneigten Zuschauer: »Wir wollten erst mal mit der einfachsten Symbolik anfangen, bevor wir über ›Das Urteil‹ oder Ähnliches reden.«
    Die anderen Eltern und Kinder schauten mich, den kleinen Jungen mit dem brechenden Schuhkarton an, als hätte ich einen brennenden Bombengürtel umgeschnallt.
    Mein Opa rettete die Situation, indem er sich zu mir herunterbückte und einen kleinen, fiependen Kasten aus dem Haufen Krimskrams hervorkramte. Es war ein Gameboy, ein Botschafter der Neuzeit, von dessen Bildschirm mir der monochrome Schnurrbart von Super Mario entgegenlächelte.
    »Schau mal, was da noch drin war …«, sagte mein Großvater, der sich völlig im Klaren darüber war, dass er gerade ein Kinderleben rettete. Derartige Auftritte, wie ich gerade einen hingelegt hatte, waren nicht selten der Beginn eines jahrelangen Martyriums. Mein Vater blickte leicht verdutzt durch das Objektiv, auch meine Mutter schien verwundert darüber zu sein, was sich da ins Carepaket für humanistisch gebildete Erstklässler verirrt hatte. Die anderen Kinder ließen ihre glitzernden Tüten liegen und bildeten einen neidischen Kreis um mich und meinen tragbaren Heilsbringer.
    Der Tag war gerettet.

Solidarität für Afrika
    Meine Eltern haben mithilfe ihrer seltsamen Erziehungsmethoden schon früh versucht, ein differenziertes Verständnis von Ironie in mir zu wecken, was aber eindeutig fehlgeschlagen ist. Ich bin immer noch ein sehr leichtgläubiger Mensch, der seinem Gegenüber zunächst einmal ernsthafte Absichten unterstellt und erst mit beachtenswerter Verzögerung bemerkt, wenn er verschaukelt wird. In der Hirnregion, in der der Sinn für Ironie sitzt, ist bei mir Schlussverkauf, mir fehlt einfach jegliches Gefühl dafür, ob jemand eine Äußerung ernst meint oder nur einen Spaß macht. Besonders zeigte sich dies immer am Jahrestag des Kinderstreichs, dem ersten April.
    Wo andere Eltern ihren schockierten Kindern von einem Brand in Disneyland oder einem verspäteten bösen Brief vom Weihnachtsmann erzählten, befassten sich meine Eltern schon damals mit mehrstufigen Masterplänen zur völligen Ausnutzung meiner kindlichen Leichtgläubigkeit. Alles begann in der zweiten Klasse, es war das Jahr 1992, ein schwüler Frühling drückte schon im April das Thermometer an die 20-Grad-Grenze. Ein paar satte Vögel flatterten wackelig am Himmel auf und ab, kaum eine Wolke war zu sehen. Und ich stand nur mit einer Pumucklunterhose bekleidet vor dem Gebäude meiner Grundschule. Ein Rest Babyspeck schob sich über meinen Hosenbund, die Tornistergurte gruben sich unheilvoll in das weiche Fleisch meines Oberkörpers. Ich grinste debil selig, in der Gewissheit, etwas Gutes zu tun. Dieses Gefühl des stillen Glücks löste sich erst in dumpfer Enttäuschung auf, als ich meine Schulkameraden sah. Scheußliche Kombinationen von neonfarbenen T-Shirts, knallroten und gepunkteten Leggins und Achtzigerjahre-Jeansjäckchen, die vom älteren Geschwisterkind vererbt und aufgetragen wurden. Keiner im Adamskostüm, nicht einmal oberkörperfrei. Langsam beschlich mich der Gedanke, dass etwas hier nicht stimmte, und die anderen Kinder schauten mich an, als würde ich gerade ein Fohlen gebären.
    Mein Vater hatte mir glaubhaft versichert, dass heute in der Schule der große »Wäsche-Tag« sei und alle Schüler als Zeichen ihrer Solidarität mit den armen Kindern in Afrika, die ja auch keine Kleidung besäßen, nur in Unterwäsche zur Schule gehen würden. Ich glaubte ihm und zog mit der kindlichen Abstinenz jeglichen Schamgefühls sowie mit meinen blinkenden Adidas-Sportschuhen

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