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Leichendieb

Leichendieb

Titel: Leichendieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrícia Melo
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wollte lieber die Angestelltentoilette benutzen. Fünf Minuten später kam siewieder, ohne Piercing, das Gesicht gewaschen, und bat um Erlaubnis, an ihren Platz zurückkehren zu dürfen.
    Die folgenden Tage waren schrecklich. Als hätten wir beide ein Verbrechen begangen. Es herrschte ein so bleiernes Klima zwischen uns, dass sie mir kaum einen guten Morgen zu wünschen vermochte. Vor lauter schlechtem Gewissen und Verlegenheit vermied ich sogar, an ihrem Platz vorbeizugehen. Wartete darauf, dass sie mich anzeigte. Nachts im Bett konnte ich bei dem Gedanken daran nicht schlafen. Aber sie zeigte mich nicht an.
    So ging es eine Woche lang. Am achten Tag erschien sie nicht. Als ich ihren leeren Stuhl sah, überkam mich eine schlimme Vorahnung. Kurz darauf rief jemand aus ihrer Familie an und teilte mir mit, dass sich das Mädchen aus dem zehnten Stock gestürzt hatte.
    Bei der Beerdigung sah ich aus der Ferne ihren Ehemann, mit Irokesenhaarschnitt und exzentrischem Outfit, Ringen in Ohr und Nase und der zweijährigen Tochter auf dem Arm.
    Ich weiß, es war nicht meinetwegen. Sie hatte schon mit dem Abgrund geliebäugelt. Ich hatte ihr nur den Anlass gegeben zu springen.
    Wer war dieses Mädchen?, fragte mein Chef bei seiner Rückkehr von einer Reise, als er von der Sache hörte. Tage später kannten sämtliche Verkäuferinnen die Geschichte von der Ohrfeige und weigerten sich, Anordnungen von mir entgegenzunehmen und mit mir zu sprechen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Virus im Gebäude und in der Umgebung. Angestellte aus anderen Stockwerken, von anderen Unternehmen, wandten sich im Fahrstuhl oder in dem Restaurant, wo ich jeden Tag zu Mittag aß, von mir ab. Das ist er, tuscheltensie, wenn ich vorbeikam. Es war seinetwegen, hieß es. Der Ohrfeiger. Ich wurde zu einer Art Berühmtheit. Ich war die Pest, der Teufel. Jemand schrieb ans schwarze Brett des Callcenters: Hau ab, du herzloses Monster!
    Ich habe keine andere Wahl, teilte mir mein Chef mit, als er mich entließ.
    Ich geriet sofort in eine Krise. Kam nicht aus dem Bett und nahm so viel Schlafmittel, dass ich einer Maschine ähnelte, die man an- und abschaltete.
    Du bist ja in einem furchtbaren Zustand, sagte mein Cousin Carlão, als er mich zufällig in São Paulo besuchte. Zufällig lud er mich ein, ein paar Wochen bei ihm zu verbringen.
    So kam es, dass ich nach Corumbá zog. Zufällig.
5
    Die Waage im Bad zeigte ein Kilo und einhundert Gramm.
    Es hieß, in den Staaten sei es das Doppelte wert und in Europa das Dreifache, aber ich hatte nicht vor, die Sache weiter voranzutreiben. Und auch nicht den Mut. Eigentlich war mir das Geld scheißegal. Ich wollte nur genügend, um eine Weile nicht mehr arbeiten zu müssen.
    Ich wog den Stoff sicherheitshalber noch zweimal.
    Dann steckte ich alles wieder zurück in den Rucksack, kletterte auf einen Stuhl, öffnete die Klappe vom Wassertank und verstaute den Rucksack dahinter.
    Mein Zimmer befand sich an der Peripherie von Corumbáund gehörte einem Kaziken des Guató-Volkes, der weder Guató sprach noch Kanufahren konnte.
    Es war größer als meine vorherige Bleibe, eine Hütte an der 26A, einer Landstraße, wo es nichts gab als Kröten und Buschwald. Ich gewöhnte mich nur schwer an den Ort mit surrenden Fliegen, Schlamm und Landbewohnern, die nichts zu bieten hatten außer Kameradschaft. Dort fühlte ich mich hohl und leer, und wenn ich nachts die Augen schloss, gingen mir weder der Lärm von São Paulo noch mein Büro in der Avenida São Luís mit seinen nackten, von der Neonreklame des Fitnessstudios gegenüber meinem Fenster erleuchteten Wänden aus dem Sinn.
    Manchmal träume ich noch immer von meiner selbstmörderischen Telefonverkäuferin, ihrem farblosen Gesicht, und wache von dem trockenen Knall der Ohrfeige auf, als würde mich jemand angreifen. Aber inzwischen kann ich an São Paulo schon wie an eine Art Zerstäuber denken, der mich in etwas Winziges, Schwaches und leicht zu Zerquetschendes verwandelt hat, das imstande war, seiner eigenen Mitarbeiterin eine runterzuhauen. Eine echte Krankheit, diese Stadt. Wie die, von denen Soldaten befallen werden, wenn sie eine Uniform anlegen und in den Krieg ziehen. Oder Untergebene bei der Ausführung von Befehlen. Nicht weil es ihnen gefallen würde, sich aufs Schlachtfeld zu begeben oder Befehle auszuführen. Es ist eher eine Frage der Konsequenz, schließlich ist man dort, um bestimmte Dinge zu tun. Man muss sich anpassen. Und man fügt sich rasch ein. Es

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