Leichenfresser - Thriller
alles.«
»Schätze, das passiert nur in Liedern.«
Barry nickte und beide verstummten wieder.
»Das da drüben ist mein Junge«, sagte Barry schließlich. Er drehte sich um und zeigte auf den schüchternen Knaben, der zurück hinter einen Gedenkstein geschlichen war. »Richie. Schwing deinen Arsch hier rüber und sag Hallo.«
Tim runzelte die Stirn. Barrys Stimme hatte einen derben, unangenehmen Tonfall angenommen. Der Junge – Richie – kam zögerlich hinter dem Gedenkstein hervor, den Blick zu Boden gerichtet, die Schultern herabhängend. Tim betrachtete das Kind eingehender. Der Junge war dünn, die Arme ragten wie Stöcke aus dem T-Shirt hervor. Sie waren mit blauen Flecken überzogen und am rechten Unterarm stach ein hässliches, rundes Mal hervor. Tim bemühte sich, keine Miene zu verziehen, innerlich jedoch war er entsetzt. Die Verletzung schien von einer Zigarette herzurühren.
»Komm gefälligst her!«, brüllte Barry.
Der Junge zuckte beim Klang der Stimme seines Vaters sichtlich zusammen und schlurfte gehorsam zu ihnen herüber. Als er sich näherte, bemerkte Tim die Narben.
»Das ist Timmy Graco«, stellte Barry vor. »Wir waren beste Freunde, als wir so alt waren, wie du’s jetzt bist.«
»Hi.« Tim streckte die Hand aus.
Richie schüttelte sie. Sein Griff war schwach, seine Handfläche verschwitzt. Leise murmelte er etwas.
Barry schlug seinem Sohn auf den Hinterkopf. »Sprich lauter. Ich hab dir schon so oft gesagt, dass dich niemand verstehen kann, wenn du so nuschelst.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Junge. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Er sah Tim nicht in die Augen, sondern hielt den Blick auf den Boden gerichtet.
»Mach dich wieder an die Arbeit«, befahl Barry.
Der Junge rannte los. Barry grinste und schaute verlegen drein.
»Manchmal will er einfach nicht hören. Muss ihm Manieren beibringen. Schätze, wir waren genauso, als wir Kinder waren.«
»Sieht aus, als hätte er sich unlängst verletzt.« Tim hatte Mühe, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen.
Schulterzuckend wandte Barry den Blick ab. »Er ist unvorsichtig. Und tollpatschig, so wie ich in seinem Alter. Du weißt ja, wie das ist. Jungs haben nun mal Narben.«
Timmy nickte. Er brachte durch den Kloß in seinem Hals keinen Ton hervor. Betroffen starrte er auf die verblasste Narbe an Barrys Wange.
Jungs haben Narben, dachte er. Manche davon verblassen – andere nicht. Manche Narben begleiten uns das ganze Leben .
»Hör mal, Barry ... ich muss los. Die Kinder sind unruhig und ich will noch nach meiner Ma sehen. Es ist eine lange Fahrt gewesen.«
»Klar.« Barry begegnete seinem Blick wieder und lächelte. Seine Züge wirkten traurig. »Die Beerdigung ist morgen. Wie lange bleibst du hier?«
»Wahrscheinlich ein paar Tage.«
»Na, dann lass uns doch zusammen etwas unternehmen. Ein paar Bier kippen. Ich zeig dir, wie ich das Haus hergerichtet hab, seit du es zuletzt gesehen hast.«
»Klingt gut. Hängt natürlich von Mara und den Kindern ab. Und von Ma. Ich will für sie da sein.«
»Aber Zeit für ein Bier mit deinem alten Kumpel wirst du doch wohl finden.«
Tim nickte.
Barry wischte sich Schweiß von der Stirn. »War schön, dich wiederzusehen, Timmy.«
»War auch schön, dich wiederzusehen, Mann.«
Tim wollte sich abwenden, aber Barry rief ihm mit leiser, trauriger Stimme etwas nach. Einen Moment lang klang er wie der alte Barry – der Barry, den Tim in seiner Kindheit gekannt hatte.
»Was ist nur mit uns passiert, Timmy?«
»Was meinst du?«
»Wir wollten immer beste Freunde sein, erinnerst du dich? Wir haben uns versprochen, dass wir uns nie im Stich lassen. Beste Freunde fürs Leben.«
»Ich erinnere mich.«
»Also, was ist passiert?«
Tim schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Barry. Das Leben, schätze ich. Wir sind erwachsen geworden. Haben uns auseinandergelebt. Aber ich denke oft und viel an dich. Und an Doug.«
»Ja.« Barry wischte sich über die Augen. »Ich auch.«
Sie verabschiedeten sich erneut voneinander und Tim steuerte auf den Toyota zu. Er hatte nicht gelogen. Tim dachte wirklich oft an Barry und Doug und auch an Katie. Tatsächlich sogar fast jeden Tag. Aber in seiner Erinnerung waren sie alle noch zwölf – und unsterblich. Und sie würden ewig zwölf bleiben und die glücklichsten Tage ihres Lebens immer und immer wieder genießen. Sie waren diejenigen, die sie mit zwölf gewesen waren, nicht diejenigen, zu denen sie das Leben mittlerweile
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