Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
»So, wir zwei sind miteinander fertig, mein kleiner Flo – zumindest fürs Erste.«
Mit betont aufreizendem Hüftschwung stolzierte sie aus dem Fitnessraum hinaus.
»Ein gut gemeinter Rat unter uns Männern, mein Junge: Jenny ist heiße, flüssige Lava«, raunte Dr. Schneider. »Lass ja die Finger von ihr. Du könntest sie dir nämlich mächtig an ihr verbrennen.«
Für Punkt 14 Uhr war das Mannschaftstraining des Turbofood-Teams angesetzt. Unter den Fahrern nannte man diese erste Trainingseinheit ›Spritztour‹. Nahezu ideale Witterungsbedingungen sorgten für Hochstimmung unter den Sportlern. Wie so oft um diese Jahreszeit wurden weite Landstriche der Pfalz von der Sonne verwöhnt. Die Luft war trocken und die herrschenden Temperaturen waren genau so, wie sie die Rennfahrer am liebsten mochten: angenehm warm, aber nicht heiß. Außerdem herrschte absolute Windstille.
Im Anschluss an eine lockere Teambesprechung begab sich ein Pulk von zwölf Profi-Radsportlern und zwei Begleitfahrzeugen auf die ausgesuchte Rundstrecke. Sie führte zunächst über die Bundesstraße 48 nach Johanniskreuz und weiter zum Eschkopf. Von diesem vorläufig höchsten Punkt aus schlängelte sich die Landesstraße die engen Serpentinen hinunter nach Annweiler am Trifels. Unterhalb der imposanten Burgen bewegte sich der kleine Pulk am welligen Rand der Haardt entlang nach Sankt Martin. Mit stoischer Ruhe ignorierten die in Zweierreihen nebeneinander herradelnden Rennfahrer die drängelnden und hupenden Auto- und Motorradfahrer.
Florian Scheuermann war rundherum glücklich. Er fühlte sich wie ein junger Prinz, der zum ersten Mal in seinem Leben an der Festtafel der alten Könige sitzen durfte. Das monotone Sirren der Speichen und der kühlende, würzig duftende Fahrtwind steigerten seine Euphorie. Zudem lösten die lockeren Gespräche mit seinen Kollegen ein Gefühl von Freude und Stolz in ihm aus. Ohne darüber irgendein Wort zu verlieren, signalisierten ihm die anderen Fahrer, dass er nun einer von ihnen war. Er konnte es noch immer nicht glauben, aber er war nun tatsächlich Mitglied einer, wenn nicht sogar der Elitetruppe des internationalen Radsports.
In Sankt Martin, einem malerischen Weindorf mit liebevoll restaurierten Fachwerkbauten, verließen die Fahrer die Weinstraße und quälten sich den strapaziösen Anstieg hinauf zur Totenkopfhütte.
Florian erinnerte sich plötzlich an einen Dokumentarfilm, den er erst vor Kurzem gemeinsam mit seinen Eltern angeschaut hatte. Darin wurden die dramatischen Ereignisse beim Jahreswechsel 1960/61 geschildert. In dieser Neujahrsnacht hatte ein Mitglied der sogenannten Kimmel-Bande, die jahrelang hier in der Gegend ihr Unwesen getrieben hatte, den Hüttenwart der nahe gelegenen Hellerhütte erschossen.
An der Kalmit vorbei, dem höchsten Berg des Pfälzer Waldes, geleitete eine enge, kurvenreiche Abfahrt die Radsportler wieder hinab ins Tal. Durch das landschaftlich reizvolle, von mehreren Burgen gesäumte Elmsteinertal schlängelte sich der Turbofood-Tross den Speyerbach entlang zurück nach Johanniskreuz.
Nach einer kurzen Rast wurde die zweite Runde in Angriff genommen.
Nun ging es erst richtig zur Sache. Die Strecke bis zum Eschkopf stand im Zeichen einer schweißtreibenden Trainingseinheit für das Ende der nächsten Woche angesetzte Mannschaftszeitfahren. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht hängten sich die Fahrer an das Hinterrad des Vordermanns. In einem eingespielten Rhythmus scherte nach ein paar Minuten jeweils der erste Fahrer nach links aus, sodass der nächste brutal im Wind stand und alles geben musste, damit das Team die erreichte Höchstgeschwindigkeit halten konnte. Sobald dessen Kräfte erlahmten, kam wieder der nächste an die Reihe.
Auf der Höhe des Eschkopfs beendeten sie diese anstrengende Trainingssequenz. Nun jagten die Rennfahrer die lange und gefährliche Abfahrt hinunter ins Tal. Florian Scheuermann hatte sich etwa in der Mitte der lockeren Fahrerkette eingereiht. Der Abstand zu den Vorderleuten wuchs mit jeder Kurve. Seine Hintermänner schlossen immer dichter zu ihm auf, bedrängten ihn, schneller und damit waghalsiger zu fahren. Einer von ihnen legte ihm sogar demonstrativ eine Hand auf die Hüfte, um ihn anzuschubsen.
Florian spürte, wie eine Panik von ihm Besitz ergriff, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Mit vor Schreck verzerrtem Gesicht drückte er seinen Oberkörper noch tiefer in die windschlüpfrige Abfahrtshaltung
Weitere Kostenlose Bücher