Lena Christ - die Glueckssucherin
ausreichendem Maße – mehr noch, er sorgte liebevoll für sie. Sie empfand keinen Mangel. Wenn sie dennoch über ihren Vater nachdachte, war es wohl eher das Geheimnis, das sie reizte. Die Spekulationen um ihre Herkunft, die durch das Verschwinden ihres offiziell anerkannten Vaters entstanden waren, mussten bei dem fantasiebegabten Mädchen zu abenteuerlichen Mutmaßungen und Theorien führen. Diese waren Wunsch und Trost zugleich und später manches Mal Entschädigung für erlittenes Leid. Sie gaben ihr die Möglichkeit, sich als etwas ganz Besonderes zu begreifen.
Das Motiv des unbekannten Vaters, der standesmäßig höhergestellt ist als die Mutter, taucht auch in Lena Christs Roman Mathias Bichler auf. Erst nach dem Tod ihrer Ziehmutter, der als Hexe diffamierten »Irscherin«, erfährt Kathrein, die große Liebe des Protagonisten, dass sie die Tochter des »erlauchten Herren« Georg von Höhenrain und der Bauernmagd Katharina Elisabeth Paumgartner zu Stubenberg ist. Der »edle Herr« hatte die junge Frau gesehen, als er auf Hirschjagd war, und ein »groß Verlangen nach ihr verspürt«. Nachdem Kathrein geboren war, zahlte er heimlich für sein uneheliches Kind zwölf Gulden Zehrgeld pro Jahr und hinterlegte fünfhundert Gulden als Aussteuer. Nach dem Tod ihrer Ziehmutter ist aus der »Hexenjungfer« plötzlich ein Herrenkind geworden. Niemand hatte damit gerechnet. Das Leben bot also unerwartete Überraschungen.
Wenn ich an Lena Christs Kindheit denke, habe ich zuallererst ein Bild aus dem Sommer 1911 vor Augen. Da war sie längst kein Kind mehr, sondern saß in München auf einer Parkbank vor der Neuen Pinakothek und schrieb über ihre Kindheit. Um sie herum herrschte munteres Treiben, es war laut und lebendig, doch sie ließ sich nicht ablenken. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, Armut, Krankheit und Perspektivlosigkeit, die in den letzten Jahren ihr Leben bestimmt hatten, hinter sich zu lassen. Sie war beinahe dreißig Jahre alt, geschieden, Mutter eines Sohnes und zweier Töchter. Den Sohn hatte sie nach der Trennung zu den Eltern ihres Mannes in Pflege gegeben. Mit Trockenwohnen und Gelegenheitsprostitution hatte sie vergeblich versucht, sich durchzuschlagen. Das Ergebnis: Sie war ins Krankenhaus gekommen, die Töchter ins Heim.
1912 wurde zum Schicksalsjahr und zu ihrer zweiten Geburt. Aus Magdalena Leix, geborene Pichler, wurde die Schriftstellerin Lena Christ. Ihr autobiografischer Roman Erinnerungen einer Überflüssigen erschien im Münchner Albert Langen Verlag. Er endet zu dem Zeitpunkt, an dem sie mit dem Schreiben begann: »Doch das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige«, lautet der Schlusssatz.
Das, was wir heute über Lena Christs Kindheit wissen, geht zurück auf dieses Werk. Ihr Biograf Günter Goepfert nennt die Erinnerungen »subjektiv, mitunter dichterisch verfremdet«. Das Buch Der Weg der Lena Christ , das ihr zweiter Ehemann schrieb, bezeichnet er zu Recht als »ichbezogen«. Doch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es Peter Jerusalem war, der das große erzählerische Talent Lena Christs erkannt und gefördert hat. 1911 hatte sie begonnen, als Diktatschreiberin für ihn zu arbeiten. Den Künstlernamen Peter Benedix, unter dem er publizierte, nahm er in den 1930er-Jahren an.
Aus der anfangs beruflichen Verbindung wurde bald auch eine private. Sie zog zu ihm nach Fürstenfeldbruck. Weil sie zu dieser Zeit nur schwer allein sein konnte – sie litt besonders unter der Trennung von ihren Kindern –, begleitete sie ihn, wenn er in München zu tun hatte. Mehrmals in der Woche gab er einer amerikanischen Studentin Nachhilfestunden. Während er in der Türkenstraße Unterricht erteilte, richtete sich Lena ihren Schreibplatz auf einer Bank vor der nahegelegenen Neuen Pinakothek ein.
Wahrscheinlich waren die Erinnerungen, Assoziationen, Wachträume zu bedrohlich, wenn sie allein zu Hause war. Alleinsein war ebenso anstrengend wie das Zusammensein mit Menschen. Am entspannendsten war das Untertauchen in alltägliches Geschehen, ohne direkt daran beteiligt zu sein. Ein Mensch mit einem so extrem hohen Grad an Sensibilität wie Lena Christ – heute ist das Phänomen der Hochsensibilität bekannt – musste versuchen, die Überflutung von Eindrücken abzuwehren. Sie fühlte sich permanenten Angriffen – äußeren wie inneren – ausgesetzt, über die sie mit niemandem reden konnte.
Die
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