Lena Christ - die Glueckssucherin
sie von den Selbstmordplänen ihrer Mutter, ausgelöst durch die Berichterstattung über die Bildfälschungen. Eindringlich bat sie ihn, zu ihnen zu kommen. Ihre Mutter hätte gern noch einmal mit ihm geredet. Nach kurzem Zögern machte er sich auf den Weg – es war bereits Mitternacht. Lena Christ war noch wach, öffnete ihm und dankte ihm für sein Kommen. Weil sie sichtlich geschwächt war, legte sie sich ins Bett und erzählte ihm, was geschehen war. Dass es für sie keinen anderen Weg als den Selbstmord gab, stand für sie fest. Sie nannte ihm die verschiedenen Möglichkeiten, die sie in Erwägung gezogen hatte: sich von der Großhesseloher Brücke zu stürzen oder sich im Würmsee zu ertränken, denn sie habe keine Schusswaffe und kein Gift zur Verfügung. Am Schluss ihrer Ausführungen fragte sie: »Was meinst du nun dazu? Glaubst du nicht auch, dass es das beste ist, wenn ich geh’?« Jerusalem berichtet, er habe nur stumm genickt, weil er es ebenfalls als einzige Möglichkeit sah. Sie sei dann erleichtert eingeschlafen, und er habe auf dem Sofa im Wohnzimmer übernachtet.
Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen ins Wohnzimmer fielen, habe sie all die schönen Dinge – Gläser, Wachsstöcke, Schmuck, Tücher – in ihrem Glasschrank, ihrer »Künikammer«, lange betrachtet und gesagt: »Am Morgen ist es doch viel schwerer, von allem fortzugehen. Ich glaube, dass man am Abend leichter stirbt.« Jerusalem wusste nichts dazu zu sagen; als sein Blick auf ihren Bücherschrank fiel, bat er sie um ein Buch. Er besaß kein einziges von ihr und suchte sich Mathias Bichler aus. Als Widmung schrieb sie hinein: »Entstanden in den friedlichsten und schönsten Tagen meines Lebens, soll er Dir erzählen von der, die so unglückselig ist. 26.6.1920«.
36 Lena Christ, um 1912
Drei Tage später rief sie wieder nach ihm. Sie fürchtete, verhaftet zu werden, und bat ihn dringend um Hilfe. Mit den Worten »Du willst doch wohl nicht, dass ich gezwungen bin, mir aus den Fetzen meines Gewands einen Strick zu drehen, um mich in der Zelle aufzuhängen«, habe sie ihn bestürmt, ihr Gift zu besorgen – über diese Möglichkeit hatten sie bei ihrem letzten Zusammensein gesprochen. Sie hatte sich den kommenden Tag als Todestag ausgewählt und Vorkehrungen getroffen, zehn Abschiedsbriefe und ein Testament verfasst. Auch ihre Kinder hatte sie vorbereitet. Als sie der Älteren auftrug, zwei weiße Kleider schwarz zu färben, habe diese leise gesagt: »Ja, Mama, ich weiß schon.«
Auf dem Küchenbalkon aßen sie zusammen zu Abend, Lena schien in gelöster, heiterer Stimmung. Nichts deutete auf ihr Vorhaben hin. Sie machten noch einen Abendspaziergang, auf dem sie von ihrem unvollendeten Kaspar-Glück-Roman sprach. Dann brachte sie ihre Kinder zu Bett und schrieb zwei Briefe, einen für Peter Jerusalem, in dem sie ihre Tat ankündigte, einen für die Polizei, den sie in ihre Handtasche steckte.
Schwer auszuhalten ist seine Beschreibung der gemeinsamen Nacht vor dem Selbstmord. Wie ein Kind habe Lena mit dem Kopf auf seiner Brust geschlafen. Er selbst habe wach gelegen, die gemeinsame Zeit Revue passieren lassen und gleichzeitig ihre Ruhe bewundert. Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg zu dem Mann, von dem er das Gift besorgen wollte, vielleicht ein befreundeter Apotheker. Währenddessen hatte sich Lena von ihren Töchtern verabschiedet, war mit der Tram zur Haltestelle Harras gefahren und von dort aus zu Fuß zum Waldfriedhof gegangen. An der verabredeten Stelle übergab ihr Jerusalem ein Fläschchen mit Zyankali. Dann trennten sie sich, und Lena versprach, ihm später ein Zeichen »aus der andern Welt« zu geben. Sie ging zielstrebig zu dem Platz, den sie sich für ihre Tat ausgewählt hatte: die Grabstätte in der Sektion 45, in der Lodovico Fabbris Vater lag. Nachdem Jerusalem sie noch eine Weile beobachtet hatte, ohne von ihr bemerkt zu werden, machte er sich auf den Weg zur Friedhofskanzlei. Es war vereinbart, dass er dort den Brief abgeben sollte, in dem sie ihren Tod ankündigte und den Wunsch äußerte, auf dem Waldfriedhof begraben zu werden.
Als er dort ankam, war sie schon von einer Friedhofsarbeiterin gefunden worden. »Mein Gott, so schön und noch so jung«, seien die Worte der älteren Frau gewesen.
Im Selbstmordverzeichnis von 1920, das im Münchner Staatsarchiv aufbewahrt wird, sind neben den Angaben zur Person vermerkt:
Sittlicher und religiöser Charakter: gut
Körperlicher Zustand:
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