Lena Christ - die Glueckssucherin
selbst erfunden und wieder ausgelöscht, ihr Ende inszeniert als Freitod einer großen Tragödin auf dem Münchner Waldfriedhof.
Die Menschen, die sie sich als Begleiter gewählt hatte, akzeptierten die Rolle, die ihnen die Regisseurin und Protagonistin zugewiesen hatte. Sie halfen ihr, den letzten Akt der Selbstinszenierung – die Selbstvernichtung – zu realisieren.
Jedes Detail – vom Ort des Todes über die Trauerkleider ihrer Töchter bis hin zum genauen zeitlichen Ablauf – hatte sie vorher geplant. So erfüllte sich auch die dritte Prophezeiung der Wahrsagerin.
In ihrem Testament gibt Lena Christ genaue Anweisungen, wie mit ihrem schriftstellerischen Nachlass zu verfahren sei. »Ich habe mich entschlossen, den Makel, welchen ich auf meinen guten Künstlernamen gebracht, und das Unglück, welches ich dadurch meiner Familie zugefügt habe, mit dem Opfer meines Lebens freiwillig zu tilgen und gutzumachen.« Die verlorene Ehre, die sie durch ihre Tat zurückgewinnen will, taucht als Hauptmotiv in allen schriftlichen Äußerungen am letzten Tag ihres Lebens auf. »Ich glaube, dass ich durch Hingabe meines Lebens meinen Kindern und meinem Mann ihren guten Namen wiedergegeben habe«, heißt es in ihrem Testament, das sie mit drei verschiedenen Namen unterzeichnet hat: Magdalena Jerusalem, Lena Christ und L. Kristoff. Ghemela Adler vermutet in Letzterem eine Reminiszenz an die Russische Revolution und weist auf Lena Christs Sympathie für die Räterepublik hin, die in ihrem Brief an Ernst Toller vom 10.4.1919 – drei Tage nach Ausrufung der Räterepublik – deutlich wird.
An Ludwig Thoma schrieb sie am Tag vor ihrem Selbstmord: »Ich habe meinen Fehltritt freiwillig mit dem Opfer meines Lebens gesühnt, damit die Ehre meiner Kinder bewahrt bleibt.« In ihrem Brief an Erich Petzet kündigt sie an, sie wolle »die befleckte Ehre« mit ihrem Leben »abwaschen« und bittet ihn, ihren unglücklichen Mann zu unterstützen. An einen nicht namentlich genannten Professor richtet sie die Bitte, sich ihrer jüngsten Tochter anzunehmen, »damit sie es leicht hat mit ihrem Leiden und ihrer etwas morschen Seele. Sie kann nichts für ihr Wesen. Sie stammt ja von gleichem Blut und Fleisch wie ich unglückseliges Menschenkind«. Nach dem Tod ihrer Mutter kam die dreizehnjährige Alixl ins Waisenhaus. Sie absolvierte eine Tanz- und Gesangsausbildung, heiratete Anton Schlageter und führte mit ihm eine glückliche Ehe. Als er starb, nahm sie sich am 17. Februar 1933 das Leben. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt und wurde im Grab ihrer Mutter beigesetzt.
38 Brief an Heinrich Dietz, den Verlobten ihrer Tochter Magdalena, 29. Juni 1920
Den berührendsten Brief schrieb Lena Christ an Heinrich Dietz, den Verlobten ihrer älteren Tochter – die Sechzehnjährige war damals schon mit ihrem späteren Mann zusammen: »Mein geliebter Sohn, ich muss gehen. Man hetzt mich zu Tod. Mach mir das Kind glücklich und gedenke der Worte, die ich Dir sagte. Hab Dank für all Deine Liebe, Dein Verstehen, Deinen Takt. Leb wohl und nimm meinen innigsten Segenswunsch zusammen mit meinem liebsten Kind. Deine Mutter Lena Christ.« Offensichtlich hat er ihren Wunsch beherzigt. Magdalena und Heinrich Dietz führten eine glückliche Ehe. Magdalena starb am 4. April 1998 im Alter von vierundneunzig Jahren.
Getrieben und gehetzt fühlt sich auch die Protagonistin in Lena Christs kurzem Text Ich spiele Maria Stuart , der den Untertitel »Ein Traum« trägt. Er wurde am 7. Juli 1949, beinahe dreißig Jahre nach ihrem Tod, in der Süddeutschen Zeitung aus ihrem Nachlass veröffentlicht. Die Ich-Erzählerin findet sich plötzlich auf einer Bühne wieder. »Ich sollte die Maria Stuart spielen, hatte aber nicht die geringste Ahnung von dem Stück und meiner Rolle und sagte mir immer wieder: um Gottes willen, wie wird das enden?« Während es für alle anderen selbstverständlich ist, dass sie die Darstellerin der Maria Stuart ist, weiß sie selbst nichts davon, fühlt sich überrumpelt, mehr noch – blamiert. Sie ist kaum bekleidet und weiß nicht, was sie tun soll. Die Zuschauer starren sie an. Bevor es zur Katastrophe kommt, erwacht sie zum Glück und fühlt sich gerettet. Anders der Reisende in Dantes Göttlicher Komödie , der in der Mitte seines Lebens »abgeirrt« war »vom rechten Wege«. Der dunkle Wald voller Grauen löst sogar in der Erinnerung noch Angst aus, »so schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer«.
Zeittafel
1881–1888
Lena
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