Lenz, Siegfried
war, der Chef, der mir die ersten Verbände anlegte, schon auf der »Stradaune«, auf dem alten Raddampfer, der nicht dazu bestimmt war, unterzugehen, sondern nur voll Wasser lief und sich auf das unbekannte Wrack setzte. Ließ ich mal etwas in meiner Erzählung aus, dann wußte Joachim gleich, was ich ausgelassen hatte, und ich sagte dann pflichtschuldig: Ja, ja, ach richtig, und flickte also ein, wie der Chef mich das letzte Stück durch hüfthohes Wasser trug, nachdem das überbesetzte Schlauchboot der »Stradaune« in der Brandung gekentert war. Ich konnte das alles schon rückwärts erzählen, und wenn er es gewünscht hätte, hätte ich leicht mit dem Satz anfangen können, den der Chef zu mir sagte, als er mich in den Sand legte und sich über mich beugte: Mal sehn, Junge, was mit uns beiden das dritte Mal passiert. Das sagte er am letzten Tag des Krieges.
Einschlafen könnte ich nicht auf diesem Feldbett, ich brauche nur eine Weile zur Probe zu liegen, dann summt es schon in meinem Kopf, summt wie von unruhigen Wespen, die raus wollen, und in den Armen fängt es an zu kribbeln. Daß Max so liegen und lesen und nachdenken konnte, tagelang, in diesem bescheidenen Zimmer. Seinen guten Schlaf hat er wohl vom Chef geerbt, diesen tiefen unbekümmerten Schlaf, der überall gelingt, selbst unter den Kuschelfichten auf dem Exerzierplatz. Wenn ich an unsere Barackenzeit denke, sehe ich den Chef immer nur auf seinem Strohsack liegen, gekrümmt, das Gesicht zur Wand, niemals ärgerlich oder wütend, wenn irgendwo gehämmert wurde, gestritten, er lag wie nach einem sanften Tod da in seiner Uniform, von der er die Rangabzeichen abgeschnitten hatte. Weckten wir ihn zum Essen, dann löffelte er sein Geschirr leer, legte sich gegen die Wand und starrte vor sich hin. Manchmal, wenn sein Blick auf mich fiel, lächelte er schwach, und er konnte dann sagen: Na, Junge, wir kommen wohl nicht voneinander los. Er nahm es Ina nicht übel, wenn sie ihn im Schlaf kitzelte, er brummte nur versöhnlich; auch wenn man auf ihn trat oder etwas auf ihn fallen ließ, brummte er nur versöhnlich. Die einzige, die auf seinen Schlaf Rücksicht nahm, war Dorothea, sie hantierte behutsam, trat leise auf, zischte uns Ermahnungen zu, sie wußte, daß es irgendwann ein endgültiges Erwachen geben würde – nach einer Ruhe, die er damals wohl nötig hatte. Nichts wurde auf entschiedene Dauer geplant; was uns wichtig erschien, wurde verschoben auf den Tag seines endgültigen Erwachens, und als Joachim mich einmal fragte: Wie lange willst du noch bei uns bleiben, antwortete Dorothea für ihn: Wart nur, bis Papa aufgestanden ist, dann wird alles geregelt.
Bis zum Mittagszug ist noch Zeit, es lohnt sich nicht mehr, etwas anzufangen, ich werde durch die Nadelholzquartiere gehen bis zur Sandgrube, auf den Bahndamm steigen und an den Gleisen horchen und dann zwischen den Gleisen entlanggehen zum Bahnhof. Ich kann nicht früh genug auf dem Bahnhof sein; selbst hier in Hollenhusen, wo die Züge nur selten halten und wo nur immer dann etwas los ist, wenn wir eine größere Sendung Bäume und Pflanzen auf den Weg bringen, bin ich gern zu früh da, sehe mich um, lese die Bekanntmachungen und überlege mir, wohin die wenigen sonntäglich gekleideten Reisenden fahren könnten.
Eines Tages werde auch ich in die Stadt fahren, vielleicht mit dem Mittagszug, und vielleicht werde ich wie Max im letzten Waggon reisen und beim Einlaufen in einen Bahnhof das Fenster herunterlassen und mein Gesicht in den Fahrtwind halten; das kann schon sein. Wenn ich mich nach seinem Gepäck bücke, wird er gewiß wieder sagen: Nicht so eifrig, Bruno, zuerst muß ich sehen, ob du dich verändert hast; und er wird mir beide Hände auf die Schultern legen und feststellen, daß ich immer noch der alte bin. Ich aber werde sehen, daß er immer noch ein heimliches Leiden mit sich herumträgt, sein Lächeln wird die Bitternis nicht ganz verdrängen, diese ruhige Bitternis, die wohl kommt, wenn einer soviel versteht wie er. Wer weiß, wie alles jetzt wäre bei uns, wenn er die Hoffnungen des Chefs erfüllt hätte; daß der Chef zuerst auf ihn setzte und seine großen Pläne mit ihm hatte, konnte damals jeder erkennen, das zeigte sich bereits an dem Tag, an dem Max heimkehrte in seiner blauen Uniform. Weg waren der Schlaf, die Müdigkeit, die Schwermut; der Chef, der eben noch im Traum gesprochen hatte, war endgültig erwacht, er umarmte, beklopfte Max vor Freude und besann sich, daß er für
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