Lenz, Siegfried
kamen und kamen nicht, das gelbe Floß hat sie mitgenommen auf Nimmerwiedersehn. In jener Zeit, als ich die Jahre noch mit Kerben zählte, hab ich viel geweint, einfach weil ich dachte, das Weinen könnte es meinen Eltern erleichtern, mich in Hollenhusen zu finden. Was mir heute Mühe macht, gelang mir damals nach Wunsch: ich konnte immer und überall losweinen, nicht nur trocken schluchzen, sondern Gesicht und Hände nässend weinen; ich brauchte nur an den Untergang des großen Landungsprahms zu denken, wie die Bombe uns traf und alles schwamm, Soldaten, Zivilisten und Pferde. Ich brauchte nur an die Augen der Pferde zu denken und an das gelbe Floß, auf dem meine Eltern kauerten, dann spürte ich schon, wie es heiß wurde und die Tränen kamen – ganz gleich, ob ich im Bett lag oder draußen auf dem Land war. Wenn der Chef mich beim Weinen überraschte, hat er nie ein Wort zu mir gesagt, zeigte kein Verlangen, mich zu trösten, er hat mich nur angesehen und mir zugenickt, nicht aufmunternd, sondern so, als könnte er mich verstehen. Von ihm habe ich nicht erfahren, daß die Pferde mich unter Wasser gedrückt und mit ihren Hufen getroffen hatten; sie sind gute und rücksichtslose Schwimmer, sie schwimmen mit verdrehten Augen und geblecktem Gebiß, und aus ihren Nüstern faucht und schnaubt es unentwegt, während ihre Hufe das Wasser walken. Max hat es mir später erzählt, und von ihm weiß ich auch, daß der Chef nach mir tauchte und mich hochbrachte und so lange in seinem Griff hielt, bis er mich auf treibendes Bretterzeug heben konnte. Und dann blieb er bei mir, bis die »Stradaune« uns auffischte; ganz blau und grün soll ich gewesen sein. Obwohl Max nicht dabei gewesen war, wußte er alles, wußte jedenfalls mehr als ich, er war der einzige, der mich getröstet hat, und um das Weinen abzustellen, brauchte ich nur an ihn zu denken, an seine Zuneigung, die ich gleich am ersten Tag spürte, als er aus dem Krieg zurückkam, in einer blauen Uniform.
Ich dreh mich nicht um, ich beuge mich noch tiefer über das Saatbeet, obwohl ich längst das schabende Geräusch hinter mir gehört habe, dies zischende Geräusch, das von Joachims lederbesetzten Hosen kommt. Er soll ruhig denken, daß er mich überrascht, und um ihm meine Überraschung anzuzeigen, werde ich gleich dreimal ausspucken, um den Schreck zu überwinden. Vermutlich macht er seinen ersten Gang als neuer Chef; es sollte mich nicht wundern, wenn er mir und unserm Vorarbeiter Ewaldsen erklären würde, daß sich etwas verändert hat an entscheidender Stelle, schließlich sind wir hier die Ältesten, die Gehilfen der ersten Stunde. Er sieht aus wie sonst, sein Gruß ist kurz und freundlich wie immer, dem schmalen Gesicht läßt sich nichts ansehen, kein heimliches Leiden, keine Verlegenheit, keine Trauer, nichts. Wie ruhig er mich ins Auge faßt, nicht mehr lange, und ich werde unsicher. Meine Mutter erwartet dich, Bruno. Ich nicke und höre mich schon fragen: Ist was mit dem Chef? Er stutzt, er sieht mich verwundert an, und sein Kopfschütteln soll nur besagen, wie unangebracht meine Frage ist, sein Kopfschütteln enthält bereits die Antwort. Ach, Bruno. Auch im Weggehen ist ihm nichts anzumerken, er geht nicht gebeugter als sonst, kein zusätzliches Gewicht hemmt seinen Schritt, doch ich weiß, daß alles nur Selbstbeherrschung ist, seine Kontrolle über sich selbst reicht so weit, daß er seine Hand mitten im Schlag anhalten kann – wie damals, als ich ihm einen Grund gab, mich zu schlagen: seine Hand war schon über mir, ich duckte mich schon, da rief er im letzten Augenblick den Schlag zurück, preßte die Lippen zusammen und ließ mich stehen.
Sehe ich von weither auf das große Haus, das sie hier nur die Festung nennen, dann erkenne ich deutlich den ehemaligen Kommandohügel des Exerzierplatzes, die Rosenbeete, die geschwungenen Wege, die Linden sind plötzlich weg, und an ihrer Stelle sehe ich hartes Gras und zähe Kräuter, eine zerwühlte und spurenreiche Erde, die das Haus wie in trotzigem Anspruch besetzt hält. Es ist das geräumigste Haus in Hollenhusen, die Fußböden sind aus geschliffenem Stein, an den Wänden hängen bräunliche Photographien, viele Stühle und Sessel sind auf den Fluren, und in der Diele steht eine große Schüssel mit Obst, die die Frau des Chefs immer selbst nachfüllt.
Jetzt werde ich weiter an der Windschutzhecke entlanggehen, da entdecken sie mich nicht gleich, und wenn ich hinter der Versandhalle auf den Hauptweg
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