Lenz, Siegfried
selbst räumen kann, dann soll alles gefunden werden.
Eine Zeitlang macht es Spaß, zwischen den Schienen zu gehen, alle Schritte sind gleich lang, die Schwellen dulden kein Ausruhen, treiben einen voran, auf einer Schwelle mag ich nicht stehenbleiben; doch schon nach einer Weile werde ich müde, möchte den Schritt wechseln oder schlendern oder traben, und dann springe ich aus den Schienen auf den Schotterweg. Die Schienen melden noch nichts, nur ein fernes Singen und Knistern – der rhythmische Schlag, mit dem sich der Zug ankündigt, ist noch nicht zu hören. Aber lange wird es nicht mehr dauern, eine bepackte Karre wartet schon auf dem Bahnsteig, und vor dem großen Schild »Hollenhusen« steht ein alter Mann in Schwarz, der den Stationsnamen liest und nicht wegfindet; vielleicht fragt er sich, wie er hierher gekommen ist. Ich werde gleich zum Ende des Bahnsteigs gehen, denn wie immer wird Max im letzten Wagen sitzen. Diesmal wird er mir wohl kein Geschenk mitbringen, ich kann mir vorstellen, daß ihm keine Zeit blieb in der Eile des Aufbruchs; doch was er mir nicht mitbringt, das kann ich auch nicht verlieren, und es waren ja oft seine Geschenke, die ich verloren habe, die Mütze, die schönen Taschentücher. Fragt mich einer, wo ein Geschenk geblieben ist, dann muß ich schon damit rechnen, es verloren zu haben; manchmal denke ich schon, daß die Sachen bei mir nicht bleiben wollen, nicht einmal Dorotheas Geschenke.
Hollenhusen wächst und wächst, früher gab es nur eine Straße, und die führte hinein und hinaus, und jetzt haben sie Querwege und Ringwege und sogar einen Wanderweg; ich trau mich da kaum mehr hinein. Früher kannte ich auch fast jeden in Hollenhusen, jeder erwiderte meinen Gruß; jetzt gibt es zu viele hier, die ich nicht kenne, fremde Leute, die sich anstoßen, wenn ich vorbeigehe, und die mir schweigend nachgucken, als könnten sie mit meinem Gruß nichts anfangen. Das neue Gemeindehaus, das sie gebaut haben, hat so viele Zimmer, daß sich nicht einmal der Chef zurechtfand, als er meinetwegen dorthin bestellt wurde; wir mußten uns erst die Zimmernummer sagen lassen, und auch danach mußten wir noch auf Stühlen sitzen und warten.
Damals, in der Barackenzeit, sagte der Chef einfach: Los, Bruno, komm, wir wollen mal den Gemeindevorsteher besuchen, und dann gingen wir und holten Detlefsen, den Gemeindevorsteher, von seiner Häckselmaschine weg und ließen uns von ihm in eine niedrige Stube seines Hauses führen, das war schon das Gemeindebüro. Er hatte noch Häcksel auf dem Ärmel und am Kragen, als er uns gegenübersaß mit seinem langen sauertöpfischen Gesicht und nicht etwa uns musterte, sondern seinen Blick an eine gerahmte Photographie der Hollenhusener Hünengräber hängte. Der Chef hatte nichts mitgenommen, kein Papier und nichts, er sagte einfach, daß er den ehemaligen Exerzierplatz übernehmen möchte, um da Pflanzen und Bäume zu ziehen in den verschiedensten Kulturen; über die Bedingungen müßte wohl mit der Gemeinde gesprochen werden. Es ist guter Boden für Freilandquartiere, hat der Chef gesagt, dort könnten Laub- und Nadel- und Obstgehölze stehen, es ist gutes Land zur Anzucht, und für Hollenhusen würde bei allem etwas herauskommen. Das hat er gesagt, und er hat sich außerdem bereiterklärt, vor dem Gemeinderat zu erscheinen und Papiere vorzulegen, falls es gewünscht werden sollte. Der Gemeindevorsteher hörte immer nur zu, und er bewegte sich auch nicht, lang und steif wie ein Reihervogel hockte er vor uns, doch zum Schluß senkte er den Blick, sagte ganz langsam, daß er von allem Kenntnis genommen habe. Er sagte auch genau so langsam, daß er das Ansuchen des Chefs im Gemeinderat zur Sprache bringen werde, zu gegebener Zeit; allerdings, so sagte er, könne er ihm nichts garantieren, weil da vor dem Chef schon zwei andere Interessenten auf der Liste stünden, die ebenfalls ihre Pläne hätten mit dem alten Exerzierplatz, andere Pläne.
Er schluckte, sah uns undurchdringlich an und bleckte die Zähne, große, schadhafte Zähne mit gelblichem Belag, und da spürte ich, wie mein Hals schwoll, zuwuchs, etwas begann in mir zu klopfen, schnell, immer schneller, meine Hände bedeckten sich mit Schweiß, in den Schläfen wummerte es beim plötzlichen Andrang des Blutes, und während der Chef nur enttäuscht dasaß, hörte ich die Stimme des Gemeindevorstehers, gedämpft, monoton, wie aus einer Gruft, ich hörte seine Stimme, obwohl er die Lippen nicht bewegte, und die
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