Leopard
mit der Überschrift getitelt: »Das Verschwinden des Kavaliers«. Altmans Name war auf Leike übergegangen, vermutlich, weil die Leute sich diesen Namen gemerkt hatten und er ohnehin besser auf Leike denn auf Altman passte. Seltsamerweise war es bislang noch keinem einzigen Pressevertreter gelungen, den Utmo-Hof mit Tony Leike in Verbindung zu bringen. Wie seine Mutter hatte anscheinend auch Tony alles darangesetzt, diese Verbindung geheim zu halten.
Mikael Bellman musste täglich Pressekonferenzen über sich ergehen lassen, und in einer Talkshow im Fernsehen zeigte er sowohl seine pädagogischen Fähigkeiten als auch sein gewinnendes Lächeln, als er erklärte, wie der Fall gelöst worden war. Natürlich in seiner Version der Geschichte. Er stellte es als eine Lappalie hin, dass der Mörder noch nicht gefasst war. Das Wesentliche sei doch, dass Tony »der Kavalier« Leike entlarvt und damit neutralisiert, sozusagen außer Gefecht gesetzt war.
Es wurde jeden Abend ein paar Minuten später dunkel. Alle warteten auf den Frühling oder einen neuerlichen Kälteeinbruch, aber beides blieb aus.
Die Lichtkegel huschten über die Zimmerdecke.
Harry lag auf der Seite und blickte dem Zigarettenrauch nach, der sich in komplizierten und nie vorhersagbaren Mustern ins Dunkel schraubte.
»Du bist so still«, sagte Kaja und schmiegte sich an seinen Rücken.
»Ich bleibe noch bis nach der Beerdigung«, sagte er. »Dann fahre ich.«
Er nahm einen Zug von der Zigarette. Sie antwortete nicht. Dann spürte er zu seiner Verwunderung etwas Nasses, Warmes auf seinem Schulterblatt. Er legte die Zigarette in den Aschenbecher und wandte sich zu ihr um. »Weinst du?«
»Nur ein bisschen«, sagte sie und lachte schniefend. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
»Willst du eine Zigarette?«
Sie schüttelte den Kopf und wischte die Tränen ab. »Mikael hat heute angerufen. Er wollte mich treffen.«
»Hm.«
Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Willst du nicht wissen, was ich geantwortet habe?«
»Nur, wenn du es erzählen willst.«
»Ich habe nein gesagt, woraufhin er meinte, dass ich das noch bereuen werde. Du würdest mich nach unten ziehen, das hättest du schon einmal mit jemandem gemacht.«
»Tja, da hat er wohl recht.«
Sie hob den Kopf. »Aber das ist bedeutungslos, verstehst du das denn nicht? Ich will bei dir sein, egal wohin du gehst!« Wieder rollten Tränen über ihre Wangen. »Und wenn es abwärts-geht, gehe ich mit dir. Auch dorthin.«
»Aber da ist nur Leere«, sagte Harry. »Da bin nicht einmal mehr ich, ich bin dann … weg. Du hast mich in Chungking gesehen. Das ist wie unmittelbar nach der Lawine. In derselben Hütte, aber allein und verlassen.«
»Vergiss nicht, dass du mich gefunden und da rausgeholt hast. Ich könnte das Gleiche auch mit dir tun.«
»Und was, wenn ich nicht rauswill? Ich habe nicht noch mehr sterbende Väter, mit denen du mich locken könntest.«
»Aber du liebst mich, Harry. Ich weiß, dass du mich liebst. Das ist doch Grund genug, nicht wahr? Ich bin Grund genug.«
Harry streichelte ihr über die Haare und die Wangen, fing die Tränen mit den Fingern ein, führte sie zu seinem Mund und küsste sie.
»Doch«, sagte er und lächelte traurig. »Du bist Grund genug.«
Sie nahm seine Hand und küsste sie.
»Nein«, flüsterte sie. »Sag nicht so was. Sag nicht, dass du genau deshalb gehen willst. Um mich nicht mit in die Tiefe zu ziehen. Ich werde dir bis ans Ende der Welt folgen, verstehst du das?«
Er zog sie an sich und spürte, wie sich in ihm etwas löste. Wie ein Muskel, den er lange angespannt hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er ließ es zu, ließ sich fallen, und der Schmerz, den er in seinem Inneren gespürt hatte, schmolz dahin und verwandelte sich in etwas Warmes, das mit seinem Blut durch den Körper strömte und ihm Frieden gab. Das Loslassen war so befreiend, dass es ihm den Hals zuschnürte. Ein anderer Teil von ihm wünschte sich genau das, was er sich auch schon oben in dem Schneechaos in den Bergen gewünscht hatte.
»Bis ans Ende der Welt«, flüsterte sie und atmete bereits schneller.
Die Lichtkegel huschten immer weiter über die Decke.
KAPITEL 82
Rot
E s war noch immer dunkel, als Harry sich ans Bett seines Vaters setzte. Eine Schwester kam mit einer Tasse Kaffee herein, fragte, ob er schon gefrühstückt habe, und legte ihm eine Illustrierte auf den Schoß.
»Sie müssen auch mal an etwas anderes denken, wissen Sie«, sagte sie,
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