Lesereise Backsteinstaedte
Kirchenbesucher nicht sieht oder nicht sehen kann. Eine zeitgenössische Collage zeigt den Besessenen in einem Kirchenschiff in fünf Positionen gleichzeitig vor seinem Stativ auf Mauervorsprüngen und obersten Leitersprossen im Einsatz. Und tatsächlich waren mitunter bis zu zwölf Meter hohe Spezialgerüste erforderlich, um bestimmte Details oder Perspektiven in den Blick zu bekommen. Der Berliner Rembrandt Verlag brachte die Früchte dieser Pionierleistung, die Die Dame so erfrischend würdigte, 1936 unter dem Titel »Fabelwelt des Mittelalters« heraus. Das Buch gilt seither als eines der besten zur Lübecker Kunstgeschichte. Leider ist es längst vergriffen. Und antiquarisch eine kostspielige Rarität.
Der Lübecker Drogistensohn, er war Jahrgang 1901 und hatte die Münchner Fotoschule mit einem glänzenden Abschluss absolviert, lichtete nicht allein die gotischen Innenwelten Lübecks ab. Der »Schmalfilm-Spezialist« kannte die Altstadt wie seine Westentasche, war in allen ihren Ecken und Winkeln unterwegs, fotografierte die Fischstraße, den Bäckergang in der Engelsgrube, die Stiftshöfe, die Salzspeicher, das Holstentor. Wilhelm Castelli fotografierte die verträumten stillen Stadtgärten oder auch die Altstadtdächer unterhalb der meergrünen Helmnadeln auf den Doppeltürmen von St. Marien, und er fotografierte ungezählte Giebelhäuser mit ihren spitzbogigen Blendnischen, aufgereihten Zwillingsfenstern in jedem Geschoss und dem treppenartigen Giebelschmuck. Fremden waren noch bis ins 17. Jahrhundert hinein diese »stattlichen starcken Steinhäuser« oder aus »gebackenen Steinen« gebauten Gemäuer sofort ins Auge gefallen. Aus zunächst praktischen Gründen waren sie entstanden und aus der Not heraus geboren. Denn nach der Gründung Lübecks 1143 auf der ovalen muschelförmigen Halbinsel am Unterlauf der Trave, hatten zwei Stadtbrände verheerende Schäden angerichtet und die meisten Fachwerkhäuser niedergebrannt. Eine Ratsverordnung schrieb daraufhin vor, nur noch Stein als Baumaterial zu verwenden. Und da es an Naturstein aus Sand oder Kalk in der näheren Umgebung gemangelt hatte, wurden die berühmten Ziegel gebrannt.
Wilhelm Castelli fotografierte ausschließlich in Schwarz-Weiß. Banausen könnten einwenden, dass das Ziegelrot dadurch seine Aura verliere. Stimmt aber nicht. Denn indem Castelli seine Aufnahmen meist bei wolkenlosem oder nur leicht bewölktem Himmel machte und immer mit den Strahlen der Sonne spielte, schimmern aus seinen Backsteinbildern die vielen unterschiedlichen Rottöne heraus, die mal ins Helle, mal ins Dunkle gleiten, mal voller Einsprengsel sind, mal glatt oder porös oder wie mit puderigem Rouge geschminkt. In Wirklichkeit ist es übrigens am schönsten, wenn man nach einem Sommergewitter durch die Lübecker Altstadt spaziert. Dann nämlich ist »Backsteinzeit«, wie die alten Lübecker sagen, fangen die Fassaden erst richtig an zu leben, reflektieren die Regentropfen, welche Kraft das majestätische Rot in sich birgt, welche Wärme es verströmt, welchen Schutz es gewährt. Die Farben der Hanse waren weiß und rot. Lübecks Hanseflagge hatte zwei breite Streifen, den oberen in Weiß, den unteren in Rot. In Weiß spinnen die Mauerfugen ein feines lineares Netz über das Backsteinrot.
Die Lübecker Kaufleute sprachen sich von Anfang an für den Bautyp des Giebelhauses aus, nachdem der Backstein ihre Stadt erobert hatte. Und auch das fiel Fremden auf. Beispielsweise Fontane. Lübeck bewahre noch seinen mittelalterlich »gothischen Charakter«, bemerkte er, selbst unter den neuen oder neu erscheinenden Häusern trügen viele noch den »Zackengiebel nach vorn«. Auch der dänische Märchendichter Hans Christian Andersen war nach Lübeck gereist. Zwischen den »spitzgiebeligen Häusern« in den steil abfallenden Straßen und in der Erinnerung, die ein historisches Gewand über das Ganze werfe, glaubte er sich »um Jahrhunderte in der Zeit« zurückversetzt. Mit dem Aufstieg der Hanse, als deren »Königin« Lübeck das Zepter über Jahrhunderte hinweg in ihren Händen hielt, wurde die Backsteingotik zum dominierenden Stil in der ältesten Ostseestadt und der »lübische Staffelgiebel« zum vorherrschenden Geschmack – in einer Formenvielfalt, doch zugleich auch städtebaulichen Geschlossenheit, die unübertroffen blieben und Lübeck als die schönste unter ihren Schwestern auswiesen. Jedes Giebelhaus war ein Unikat, verkörperte Besitz und Ansehen und strahlte den Eigensinn
Weitere Kostenlose Bücher