Lesereise Backsteinstaedte
Grass-Ausstellungen gern den »Butt« oder auch die »Kröte« ausschenken wollen. Letztere zeichnete Grass 2005 auf ein Etikett mit den Aufschriften »Diese Kröte will geschluckt werden« und »Diese Kröte kann man schlucken«. Beide Varianten sind Unkenrufen zufolge auch als Geschenk von Sekretärinnen an ihre Chefs sehr beliebt.
Ein wieder anderes Publikum spricht die »Rättin« an – und wenn man bis dahin noch nicht das Grass-Haus eine Tür weiter besucht hat, tut man dies nun. Denn die Zeichnungen auf den Etiketten machen neugierig, den Grafiker und Bildhauer Günter Grass näher kennenzulernen. Und weiter: anhand seiner Plastiken, Radierungen, Lithografien zu Plattfisch, Ratten, Kröten, Krebsen nachzuspüren, wie daraus auf der Tastatur seiner Olivetti Lyrik und Prosa erwächst. »Ich bin gelernter Bildhauer und Grafiker, als Autor bin ich Autodidakt«, heißt ein Bekenntnis von Grass. Am Anfang war demnach die bildende Kunst, dann erst kam das Wort. Zumindest beim »Butt«. Lange bevor er sein siebenhundert Seiten langes Märchen als Roman niederschrieb, zeichnete Günter Grass, wie er 1979 schrieb, den Plattfisch »mit dem Pinsel, mit der Rohrfeder, mit spröder Kohle und mit weichem Blei«. Und als der Plattfisch zu sprechen begann, fertigte er wiederum Radierungen an, die den epischen Stoff erweiterten.
Zu Kurt Thater kommen viele Grass-Haus-Besucher. Die einen, weil sie mit einem exquisiten Wein ihre Eindrücke sacken lassen wollen. Andere lockt an, dass »Münte« schon mal da war, Schröder sowieso und dass Kurt Thater die ganze Familie von Günter Grass kennt, selbst den Hund. Der Nachbar von Grass ist aber verschwiegen wie ein Grab. Seine Lübecker Stammgäste, ein illustrer Kreis genussfreudiger Rechtsanwälte, Banker, Kaufleute, wissen das. Und so schnackt man denn lieber über Gott und die Welt – »Bis früh der Hahn kräht«, so der Spruch auf dem einzigen farbigen Etikett von Günter Grass. Ausgewählt für zwei Tropfen aus dem Edelweingut Plozner im Friaul: der weiße fruchtig-elegant, der rote jugendlich-feurig. Zum Wohl!
Ein Marzipan-Café auf der Ostsee
Samtweiche Kindheitsträume
Es waren höchstens drei oder vier. Mehr nicht. Ganz bescheiden. Wie überhaupt jene frühen sechziger Jahre, als man noch alte Wollsachen auftrennte, Säume zum Verlängern in Röcke und Ärmel nähte und sich gute Butter, wenn überhaupt, nur feiertags leistete. Die mit Kakaopulver bestäubte zarte Nascherei, um die sich geheimnisvolle Märchen aus Tausendundeiner Nacht rankten, war für uns Kinder eine Kostbarkeit. Denn es gab sie nur während der Adventszeit. Nicht wie heute immer und überall. Am Abend vor Nikolaus stellten wir unsere Schuhe ins Treppenhaus. Auf den Moment hatten wir uns wochenlang gefreut! Denn wir wussten, nein, hofften, drückten die Daumen, dass es endlich wieder Marzipankartoffeln geben wird! Jahr für Jahr geschah das auch. In Schlafanzug und Nachthemd schlichen wir morgens, wenn unsere Eltern noch schliefen, auf leisen Katzensohlen über den kalten Flur zur Haustür, öffneten sie so, dass kein Mucks zu hören war und schauten nach. Juchhu! – Psst! Und schon verschwand die erste Marzipankartoffel, zwischen Tannenzweigen, Strohsternen und Mandarinen zielsicher herausgefischt, im Mund. Die anderen Marzipankartoffeln wanderten mit ins Bett. Augen zu. Schmatzen. Lippen ablecken. Und nur noch träumen. In dulci jubilo …
Sofern der Nikolaustag zwischen Montag und Freitag lag, wurden die Gaben (oder was von ihnen übrig geblieben war) auf dem Schulweg getauscht: Honigkuchen gegen gefüllte Schokoladenkringel, Spekulatius gegen Vanillekipferln, Marzipanbrot gegen Marzipankartoffeln. Dabei schmeckten wir bereits als Fünftklässler heraus, dass Marzipan nicht gleich Marzipan ist! Die exakt vorgeschriebenen Bestimmungen, wann welche Nomenklatur wofür benutzt werden darf, war uns Kindern natürlich kein Begriff, also dass es Marzipan, Edelmarzipan, Lübecker Marzipan, Lübecker Edelmarzipan und Niederegger Marzipan gibt, und sich alles um das – gute oder weniger gute! – Verhältnis zwischen Mandeln und Zucker dreht. Und das fängt schon bei der Rohmasse an. Zur knappen Hälfte, nämlich mindestens achtundvierzig Prozent, muss diese aus Mandeln bestehen, legt ein gesetzlicher Rahmen fest, der Zucker hingegen darf nicht mehr als fünfunddreißig Prozent auf die Waage bringen. Mit dem Namen der Hansestadt darf sich ferner nur adeln, wer auch in Lübeck produziert. Und für den
Weitere Kostenlose Bücher