Lesereise Backsteinstaedte
Zuckerstreuer gilt: Je sparsamer damit in der weiteren Verarbeitung umgegangen wird, desto feiner die Qualität. Abgesehen vom kratzigen Konsummarzipan, das wir hier nicht weiter unter die Lupe nehmen, ist es Lübecker Marzipan, wenn der Rohmasse zusätzliche dreißig Prozent Zucker beigefügt sind. Bei nur zehn Prozent, mithin einer deutlichen Qualitätssteigerung, steht Lübecker Edelmarzipan auf dem Etikett. Niederegger leistet sich, gänzlich ohne zusätzlichen Zucker auszukommen, sodass das Marzipan ausschließlich aus Rohmasse besteht, die wiederum im besten Verhältnis von üppigen zwei Dritteln Mandeln und einem Drittel Zucker gemischt wird. Dass bei uns Kindern jene samtweiche saftige Mandelspezialität mit den Türmen von Lübeck auf allen Tüten und Schachteln am besten abschnitt, verwundert darum nicht. Dieses Marzipan, munkelte man, enthielt obendrein Tropfen sündhaft teuren Rosenwassers und Gewürze aus dem Orient. Letzteres vor allem beflügelte unsere Fantasien von Königen und Königinnen in rubinrot glänzendem Brokat. Prächtige Marzipanpaläste mit Marzipantürmen, Marzipangemächern und Marzipanballsälen malten wir uns aus – ohne zu wissen, dass die kalorienreiche Verführung von alters her höfischen Tafelrunden das gewisse luxuriöse Etwas verliehen hat: zum Beispiel als Pausenkonfekt zwischen pompösen vierundzwanzig Menügängen oder zu einem Mokka nach dem Dessert, serviert in Form überbordender kolorierter Marzipanfrüchte auf silbernen Etageren. Zudem diente Marzipan stets auch verschwenderischen Selbstinszenierungen. So ließ Kaiserin Maria Theresia zum ersten Weihnachtsfest nach ihrer Thronbesteigung 1740 mehrere Hundert lebensgroße Marzipanabbilder von sich fertigen und mit Blattgold überziehen – als kleines Präsent für auserwählte verdiente Untertanen.
Aus dem Zweistromland, das heute leider keinen märchenhaften Beiklang mehr hat, soll Marzipan ursprünglich stammen. Und zwar wird vermutet, dass das »Haremskonfekt«, wie es Thomas Mann betitelte, im 9. Jahrhundert bereits zu den Gaumengenüssen von Kalifen gehört hat. Blütenübervolle Mandelbäume wuchsen unter der heißen Sonne zwischen Euphrat und Tigris. Die Kunst der Rosenwasserherstellung war im Perserreich seit Generationen bekannt. Handelskarawanen aus Indien schafften den Zucker heran. Araber brachten schließlich das »Mauthaban« durch die Eroberung der Iberischen Halbinsel ins Abendland. Venedig nahm den Handel in die Hand. Und als bald auch Rezeptur und Rohstoffe für »Matapan«, wie es die Venezianer nannten, die italienische Grenze passierten, bereicherte die süße Sünde das Sortiment europäischer Konditoren. So auch in Lübeck, wo ein gewisser Johann Georg Niederegger damit beschäftigt war, ein Marzipanimperium aufzubauen. Aus seiner Geburtsstadt Ulm hatte sich dieser Mann, der mit Jabot und hochgeschlagenem schwarzen Tuchmantelkragen wie ein Ratsherr aussah, 1797 als wandernder Geselle in den Norden aufgemacht. Das Glück brachte ihm eine Anstellung in einer alteingesessenen Lübecker Konditorei. Dort verfeinerte er sein handwerkliches Können und erwarb kaufmännisches Know-how. 1822 wagte Niederegger den Sprung in die Selbständigkeit und schuf sich einen eigenen Firmensitz gegenüber der Renaissancetreppe am backsteingotischen Lübecker Rathaus, in vorzüglicher Lage also. Benachbarte Gebäude kamen später für die Marzipanproduktion mit Maschinen zum Mandelnschälen, Mandelnreiben und Mischen der Marzipanrohmasse mit Granitwalzen hinzu. Erlauchte Adressen wie der russische Zarenhof oder das deutsche Kaiserhaus hatten die Auftragsbücher gefüllt (die nachfolgende Kundenprominenz hieß Truman Capote, Armin Mueller-Stahl, Wolfgang Joop). Niederegger Marzipan wurde mit Dutzenden von Medaillen geehrt, zum Beispiel 1873 auf der Weltausstellung in Wien. 1880 öffnete neben dem Lübecker Stammhaus das legendäre Niederegger-Café. Doch da lebte der Firmengründer schon lange nicht mehr. Seine Nachfolger, eingeheiratete Mitarbeiter zumeist, hielten das Unternehmen auf sicherem Kurs. Ab 1931 leitete es Carl Arthur Strait, der Großvater des heutigen Geschäftsführers Holger Strait. Firmenlogo sind seit der Weimarer Zeit Johann Georg Niedereggers Initialen auf dem Lübecker Holstentor. Gestaltet von Alfred Mahlau, einem gebürtigen Berliner, der nach dem Ersten Weltkrieg als Gebrauchsgrafiker in Lübeck lebte und 1946 eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg annahm. Mahlaus
Weitere Kostenlose Bücher