Lesereise Backsteinstaedte
Aquarelle vom Hamburger Hafen und von Helgoland hingen in schmalen Birkenholzrahmen bei uns zu Hause überm Bücherschrank. Womit wir wieder bei uns Kindern angekommen wären, damals in den frühen sechziger Jahren.
Sobald die ersten Schneeflocken fielen und Eisblumen echte Wintergärten an den Fensterscheiben blühen ließen, bastelten wir nach der Schule mit Niederegger Marzipanetiketten und Geschenkverpackungen. Unser Plan war ein Lübecker Quartett aus den Lübecker Türmen, Backsteinfassaden, Koggen und Ankern, allesamt entworfen von Rudolf Mahlau in festlichem Rot, Weiß und Gold. Sorgfältig schnitten wir die filigranen Motive aus und klebten sie auf festen Karton. Am liebsten mit Pelikanol. Denn diese weiße weiche Paste fühlte sich wie flüssiges Marzipan an. Und roch – welch ein Zufall! – auch nach Marzipan. Süchtig machend geradezu. Ob man den Klebstoff darum wohl eines Tages aus dem Verkehr gezogen hat?
Oft machten wir im Frühling und im Sommer abendliche Spritztouren mit unseren Eltern im VW -Käfer an die Lübecker Bucht. Und wer von der Autobahn aus als Erster die Türme von Lübeck erspähte, den Spaß hatte sich unser Vater ausgedacht, wurde mit einer doppelten Portion Softeis oder einer Freirunde Minigolf belohnt. Beides wirtschaftswunderneue Errungenschaften damals. Hätten wir heute einen Wunsch frei, würden wir uns ganz unbescheiden in der Niederegger Marzipanfabrik im Lübecker Vorort Gemin einquartieren und eine Vollplastik des Niederegger-Cafés modellieren. Und zwar von jenem, das Niederegger 1930 mit unerhörtem Aufwand in einem Ostseeausflugdampfer eingerichtet hat, als Miniaturausgabe des Originals in der Stadt. Die einstigen Mahagonitäfelungen würden wir »schokoladieren«, wie es die Schminkdamen der Niederegger Marzipanfiguren formulieren, die geschliffenen Spiegel, aus Marzipan nachgebildet, in hellblauem Pastell tönen, das Jugendstilmobiliar safrangelb färben, mit Perlen und Zuckerguss verzieren. Die Krönung wäre ein wahrhaftig fahrendes Marzipan-Café auf der Ostsee, das von Lübeck bis Usedom Gäste mit Marzipanspezialitäten betört. An Marzipantortentischen sitzend, der Schiffsfußboden mit Marzipanteppichen ausgelegt, die Wände mit Marzipanmeeresgetier tapeziert. Und wenn es draußen dämmrig wird, leuchtet aus den Marzipankugellampen ein geheimnisvolles Licht. Es verrät uns, wie wichtig unsere Kindheitsträume sind …
Überlebt als Seezeichen
Der Turm von St. Marien in Wismar
Er blieb von dem Irrsinn verschont. Wurde im August 1960 nicht mit in die Luft gesprengt. Stand daraufhin einsam auf jenem kahlen weiten Platz, den zuvor die dreischiffige Basilika mit Kathedralenchor und Kapellenkranz ausgefüllt hatte: der einundachtzig Meter hohe Turm von St. Marien – seine Ostfront eine einzige Wunde, die nie verheilen wird. Ursprünglich ragte das Wahrzeichen der Stadt kühne hundertzwanzig Meter in den Himmel hoch (von fast gleicher Höhe, der weltliche Vergleich sei an dieser Stelle erlaubt, ist das Hotel Maritim am Travemünder Strand). Bei Unwettern schlugen immer wieder Blitze in den Pyramidenhelm auf der Turmspitze ein. Und als dessen Ersatz 1661 von einem Sturm weggerissen wurde, bildeten fortan die vier nun mit Dächern versehenen Giebeldreiecke den Turmabschluss. In alten Mecklenburger Schriften wird St. Marien als »frauenfeine Riesin« verehrt, der Turm »erhaben wie ein königliches Haupt, der Leib schlank und edel, die Strebbögen steif gespreizt«. Bürgerstolz und Frömmigkeit strahlte die Backsteinkirche aus, selbst nach den schweren Schäden, die sie in der Bombennacht vom 14. auf den 15. April 1945 erlitten hat. Im System der DDR , welches sich bald etablierte, galten Bürgerstolz und Frömmigkeit jedoch nichts. Und der Sakralarchitektur aus der Blütezeit der Hanse zollte man wenig Respekt. Über den Wunsch der Wismaraner, St. Marien wieder aufzubauen, setzten sich die Behörden hinweg. Ordneten mit der Begründung, das Ziegelwerk sei baufällig, sogar die Sprengung der Kirche an – getrieben von politischer Dumpfheit, ein Jahr vorm Mauerbau. Russen standen zum Abtransport der Trümmer mit Lastwagenkolonnen bereit. Was von den Backsteinen übrig war, die ältesten datierten aus dem 13. Jahrhundert, wurde zu Schotter zermahlen.
Der Frevel ist bis heute ungesühnt. Das Ausmaß der Zerstörung wird seit 2002 im Turm von St. Marien und seinen Seitenkapellen in einer Ausstellung illustriert, unterstützt von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz,
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