Lesereise - Jakobsweg
Stein- und dann Holzstiegen kletterten wir immer höher und höher, bis zu einer tadellos renovierten Dachkammer. Den Nachmittag verbrachten wir damit, die verwinkelten Gänge, versteckten Türen und Hinterzimmer zu erforschen – der »Name der Rose« lag in der Luft, Leiche lag zum Glück keine herum.
Natürlich gibt es viele Legenden über die Entstehung von Conques. Oft dienten diese Legenden in erster Linie dazu, die eigenen Machtansprüche gegen konkurrierende Abteien wie Figeac zu verteidigen. Natürlich ging es viel um Geld und Gold und Grund und wenig um Gott in der Geschichte von Conques, und doch: Man spürt in der Stadt, in der Kirche und im Kloster, dass es einigen Menschen hier sehr ernst gewesen sein muss mit der Religion. Das, was so viele heute in der Esoterik oder in asiatischen Religionen suchen, weil sie es in den christlichen Kirchen nicht mehr finden, ahnt man hier noch: den Geist, die Spiritualität. In Conques ist dieser Geist stark mit dem Jakobsweg verbunden. Das merkt man nicht nur an den vielen Jakobsmuschel-Darstellungen, sondern auch an der speziell auf Pilger ausgerichteten Liturgie mit Pilgersegen, täglich um acht Uhr früh.
Auch die heutigen Hausherren von Conques, die dem Orden mit dem schwierigen Namen Prämonstratenser angehören, erscheinen uns außergewöhnlich: Sie sind herzlich, neugierig, aufgeschlossen; im Gegensatz zu vielen anderen Klöstern gibt es verhältnismäßig viele junge Mönche; wie man an ihren zahlreichen Aktivitäten sieht, sind sie fleißige Geschäftsleute; wie ich in einem unabsichtlich erlauschten Gespräch mitbekam, trinken sie gerne Wein und verhandeln geschickt mit ihrem Lieferanten. Bei all diesen weltlichen Aktivitäten: Auf der ganzen Pilgerschaft haben wir keine schönere Messe erlebt. Sie fand nach dem gemeinsamen Abendessen statt (auch die Küche der Prämonstratenser ist übrigens sehr zu empfehlen).
Bei diesem Abendessen, das wir mit anderen Pilgern (auch den Kanadiern) einnehmen, serviert ein älteres Ehepaar – sie sind für zwei Wochen als freiwillige Helfer hier. Sie sind den Jakobsweg schon dreimal gegangen. »Es gibt eine große Gefahr, wenn man den Weg geht«, sagen sie, »nämlich, dass es einem nachher zu Hause zu eng wird.« Deshalb sind sie nun jedes Jahr zu Fuß unterwegs – durch Spanien, durch Indien, zuletzt durch Vietnam. Und außerdem, so sagen sie, kehrt jeder, der einmal auf dem Weg war, irgendwann auf den Weg zurück.
Um acht Uhr, so wurde uns gesagt, gebe es die Abendmesse. Wir folgten der Einladung eigentlich eher unwillig; und dennoch haben uns die Kraft und die Innigkeit, die von den Gesängen der Mönche ausgingen, verzaubert. Dass die Kirche ausschließlich mit Kerzen beleuchtet war, hat sicher auch einiges zu dem Zauber beigetragen. Nach der Messe setzte sich jener Pater, der zuvor die Verhandlungen über den Ankauf des Weines geführt hatte, an die mächtige Orgel der Kirche und improvisierte eine halbe Stunde lang Variationen über ein Thema von Bach, und manchmal hatte ich den Eindruck, die Kirche würde gleich zu einem kleinen Rundflug durch das Universum abheben.
Livinhac-le-Haut, 3. Oktober
Der morgendliche Anstieg ist herb. Dafür wird man bei der Chapelle Sainte-Foy mit einem prächtigen Blick auf Conques belohnt, das auch aus der Ferne wie ein seltsames Relikt aus einer anderen Zeit wirkt. Ein Tipp für alle Augenleidenden: Unterhalb der Kapelle fließt eine kleine wundertätige Quelle aus einem Stein. Ihr Wasser soll, wenn man fest daran glaubt, bei Sehstörungen helfen.
Nach dem Anstieg, auf einem Hochplateau, von dem aus man wieder Hunderte Kilometer ins Land sieht, holen uns zwei ältere, tadellos gekleidete Schweizer Herren ein. Sie gehören zu einer Gruppe, die den Weg teils zu Fuß, teils mit dem Bus zurücklegt. Die beiden Schweizer stellen sich als Breu und Beck vor: Namen wie aus einem Dürrenmatt-Stück. Herr Breu erzählt uns von Marco, einem »hübschen Jungen« aus der italienischen Schweiz, der nach Santiago geht. Herr Breu hat ihn in Conques zum Abendessen eingeladen. Marco hat eine Werkzeugmacherlehre absolviert, doch das reicht ihm nicht. Er sucht nach etwas anderem in seinem Leben. Er hat sich von seiner Heimatpfarre einen lateinischen Pilgerpass ausstellen lassen. Herr Breu meint, es würde ihn nach ihren Gesprächen nicht wundern, wenn Marco nach seiner Rückkehr Theologie zu studieren begänne.
Als wir, nach zwei Stunden gemeinsamen Weges, Mittagsrast halten, gehen die Schweizer
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