Lesereise - Jakobsweg
war also gut. Und erst Cajarc! Gleich am Ortseingang ein Supermarkt. Ein lächerlicher Provinz-»Ecoprix« natürlich, aber für uns eine einzige große Versuchung. Wir haben nämlich Lust, einmal so richtig einzukaufen, sind aber als Pilger auf die sehr existenzielle Erkenntnis zurückgeworfen, dass man sich ohnehin nichts mitnehmen kann. Noch dazu sind die meisten Verpackungen sehr pilgerunfreundlich. Schokolade im 3er-Pack, Joghurt im 6er-Pack, Crème Caramel im 4er-Pack – da heißt es entweder enthaltsam bleiben oder reinfuttern wie blöd. Wir haben uns für Letzteres entschieden.
Die Herberge teilen wir wieder mit den Schotten. Wenn man einmal Begleiter hat, dann behält man sie auch, außer sie legen Ruhetage ein wie die Kanadier oder die Herren aus Lyon. Oder man läuft ihnen davon, doch dazu sind wir nicht in der Lage. Aber wir lernen wieder einiges. Zum Beispiel, dass es auch Rotwein um sieben Franc gegeben hätte – »what a waste«, dass wir zwanzig für unseren gezahlt haben. Oder, dass Schotten unter dem Kilt wirklich nichts anhaben. Nach der Flasche Wein um sieben Franc erzählt John, dass es ein Video gibt, das seinen Bruder beim Bungeejumping zeigt. Und auf diesem Video sieht man eindeutig, dass der Schotte unter dem Kilt gemeinhin nichts trägt.
Limogne-en-Quercy, 6. Oktober
Kein Regen, hübsche Wege, ein schöner Tag. Im gîte d’étape haben wie immer schon die Schotten auf uns gewartet. Wir haben die Matratzen und die Duschen inspiziert, geduscht, eingekauft, gekocht, gegessen und den Weg für morgen studiert. Seltsam, wie schnell auch der Weg aus dem Alltag zum Alltag werden kann.
Auch Marco war hier: »Pax et Bonum« steht da in seiner unverkennbaren Schrift und nebenbei noch eine ganze schwärmerische Rede darüber, wie das Gehen ihm langsam zum Rausch wird, wie ihn seine Füße von selbst nach Santiago tragen. Vielleicht ist es nur, weil wir heute so müde sind, aber wir machen uns irgendwie Sorgen um Marco. Er geht ganz alleine, kann seine Gedanken an niemandem überprüfen, steigert sich vielleicht in etwas hinein, hebt völlig ab. Naja, vielleicht lernt er ja eines Tages Ursula kennen – der schwärmerische Gottsucher und die bodenständige Deutsche – das wäre spannend. Die zwei sind ja nur einen Tag voneinander entfernt. Seltsam, wie viele Gedanken wir uns über Menschen machen, die wir gar nicht kennen.
Vaylats, 7. Oktober
Wieder regnete es – bei eisigem Wind – nicht, und wieder war der Weg schön (wobei wir uns fragen, ob die Eichenwälder eigentlich irgendwann aufhören oder nicht). In der kleinen Ortschaft Bach legten wir uns in der Kirche auf zwei der alten Bänke und sanken innerhalb von Sekunden in einen halbstündigen Tiefschlaf. Sicher wäre es gut, so wie die anderen einen Ruhetag in der Woche einzulegen. Aber irgendwie sind wir zu ungeduldig dazu, wollen immer weitergehen. Der Preis, den wir dafür zahlen, sind solche Erschöpfungszustände. Es sind zwar wirklich keine Gewaltmärsche, die wir machen, aber an das durchgehende Gehen ist der Körper einfach nicht gewöhnt.
Nach unserem Kirchenschlaf standen wir vor der Wahl, entweder den »Bois du Grézal«, ein von den mittelalterlichen Pilgern gefürchtetes, einsames Waldstück vier Stunden lang zu durchqueren, um danach einen gîte d’étape, von dem man nicht genau weiß, ob er offen hat, vorzufinden, oder einen kleinen Umweg nach Vaylats zu gehen. Dort, so hatten wir gehört, soll es ein Kloster geben, in dem man auch übernachten kann. Da der Wind plötzlich stärker wurde, entschieden wir uns für das Kloster. Zum Glück! Die Nonnen, die sich »Filles de Jésus« nennen, empfingen uns sehr freundlich und wiesen uns ein wunderbares Zimmer zu – mit Heizung. Das ist, an kalten Tagen wie diesem, nicht nur für uns eine Wohltat, sondern auch für das Wäschetrocknen wichtig. Über geheizte Zimmer freuen wir uns immer wie über einen Lottotreffer, so selten sind sie. Hier im Süden glauben die Menschen anscheinend selbst, es wäre immer warm.
Vaylats, 7. Oktober
Liebe Michi!
Ich habe mich ja schon länger nicht gemeldet. Das liegt daran, dass ich an den vergangenen Abenden entweder bis spät in die Nacht hinein mit den Schotten geplaudert habe oder gleich nach dem Essen eingeschlafen bin. Das Einzige, wofür ich mir immer Zeit nehme (ja, als Pilger hat man einen ziemlichen Stress!), ist das Vervollständigen unserer Wanderstatistik. Also: Wir sind heute, nach unserem 15. Wandertag, 313,5 Kilometer zu Fuß
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