Lesereise - Jakobsweg
die schon dort saßen. Die beiden sind dann die Umwege des markierten Weges gegangen, der einen in Frankreich stets fern von den Straßen hält. Das ist normalerweise auch sehr angenehm, aber wir wollten die schlammigen Wege meiden und haben deshalb die Direttissima namens Route départementale 2 genommen, und das war gut so. So konnten wir in Saint-Félix noch einen kleinen Kaffee zu uns nehmen und waren immer noch schneller als John und Cecilia. Saint-Félix ist einer dieser Orte, in denen sogar die Friedhöfe langsam sterben. Doch so klein kann ein Ort gar nicht sein, dass er nicht auch ein Gefallenendenkmal hätte, das zeigt, wie belebt er früher einmal gewesen sein muss. Erschütternd, wie viele Namen unter der Aufschrift 1914–1918 stehen, daneben die Namen der großen Völkerschlachthöfe: Verdun – Somme – Marne … Erschütternd auch eine kleine Zusatztafel beim Denkmal von Saint-Félix: »12. Mai 1944« steht da, und darunter: »Fusillés« (erschossen), und darunter eine lange Liste von Namen, Männer und Frauen, bei den Kindern auch das Alter: »8 ans«; »12 ans«. Kein Wunder, dass die älteren Leute in Frankreich selten gut auf die Deutschen und Österreicher zu sprechen sind.
Am Nachmittag haben wir beschlossen, nicht nach Figeac, sondern ein bisschen weiter zu gehen. Nicht, dass es uns unbedingt reizte, 31 Kilometer zurückzulegen, aber wir hatten keine besondere Lust auf Stadt, zumal am Sonntag (und in den kleinen Orten auch am Montag!) ohnehin alles geschlossen hat. Figeac, haben wir später gehört, ist wunderschön, aber das ist der gîte d’étape in La Cassagnole auch. Er wird privat geführt, von einer Dame, die Kalligrafin ist und deren Geschmack und Sinn für Details sich in der mit Wandtüchern und Raumtrennungen japanisch-schlicht anmutenden Pilgerherberge widerspiegeln. In einem zweiten Haus ist eine Küche untergebracht, wo es viele Lebensmittel sowie eine kleine Kasse gibt, in die man die entsprechende Summe einfach hineinlegt. Und das Schönste: Die Schotten haben ein eigenes Zimmer im Obergeschoß, mit einer Tür dazwischen!
Zwischen den beiden Häusern steht ein alter Lindenbaum, mit Gartenmöbeln darunter. Wenn es nicht sieben Grad hätte, sondern 25, könnte man wunderbar dort sitzen, ins Land schauen und eine Flasche Rotwein des Hauses trinken. So ist es Lindenblütentee in der Küche, und das ist auch nicht schlecht.
Cajarc, 5. Oktober
Aus dem Gästebuch des hiesigen gîte d’étape: »2. Oktober. Auf meinem heutigen Weg konnte ich mir schon ein halbes Abendessen zusammenstellen. Trauben, Hagebutten, Walnüsse, Pfefferminze und frische Feigen haben mich den Regentag sogar etwas genießen lassen. Dann stand auch noch eine halbe Flasche Rotwein im Kühlschrank – eigentlich ist das Leben doch herrlich. Aufgewärmt und gut gelaunt gehe ich nun schlafen. Ursula (Hof/Bayern->Santiago).« Einen Tag später, am 3. Oktober, steht da, mit einer deutlich unrunderen Schrift: »Ich bin wieder da! Vielleicht lag es am Rotwein, ich bin heute morgen jedenfalls siegessicher der Markierung gefolgt und bin genau in der falschen Richtung zur Stadt hinaus. Gestern Abend bin ich die Variante gegangen, und so habe ich den Weg nicht gekannt. Wenn mich jemand bei meinem Wutausbruch beobachtet hätte, wäre ich jetzt schon eingeliefert. Nach dem ersten Schock bin ich also zurück. Nach meiner Ehrenrunde trinke ich jetzt hier noch einen Kaffee und starte meinen zweiten Versuch. Ursula.«
Dank Ursula blieb uns genau dieser Fehler anderntags erspart …
Cajarc, wo wir heute nach 25 Kilometern gelandet sind und wo übrigens Françoise Sagan geboren wurde, ist, jedenfalls für Pilgerbegriffe, fast eine Metropole. Aber zuerst zum Weg: fast kein Regen – und eine der schönsten Etappen überhaupt. Keinerlei Bergwertungen, schier endlose Feldwege und nach den Feldern Wälder aus kleinen, verwitterten Eichen, dazwischen ein paar Birken, viel Moos und Farn. Es sieht so verzaubert aus, dass man minütlich erwartet, dass einem eine Elfe über den Weg läuft oder zumindest ein Wildschwein.
Stattdessen ist ein Düsenjäger über uns hinweggeflogen, Richtung Südwesten. Bis Santiago würde er nicht einmal eine Stunde benötigen. Vor uns liegen noch sechs Wochen. Wir sind wandelnde Anachronismen.
Mittags haben wir eine Omelette in Béduer gegessen (so eine flaumige Omelette mit frischem Weißbrot gehört zu den größten Delikatessen), nachmittags in Gréalou Kaffee getrunken. Die Wander-Infrastruktur
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