Lesereise - Jakobsweg
weiter. »Auf Wiedersehen«, sagen wir, und wir sehen sie nie wieder. Seltsam, wie viele Menschen man auf dem Weg kennenlernt, nette Menschen, die einem so schnell wieder abhanden kommen. Auch Katharina ist gestern nach Hause gefahren.
In einer Kapelle, ein paar Stunden später, finden wir eine Eintragung von Marco. Er kommt uns bereits wie ein alter Bekannter vor. Vielleicht stimmt die Überlegung mit dem Theologiestudium: »Pax et Bonum«, der Wahlspruch der Franziskaner, steht da lakonisch über seinem Namen, in gemalter Schrift.
Ansonsten: Kein Regen! Kein einziger Tropfen! Es war herrlich! Man geht auf dem Hügelrücken dahin, genießt die Aussicht und ist ein bisschen traurig, wenn man wieder einmal ins Tal hinuntergehen muss. Nicht nur, weil man schon aus Erfahrung weiß, dass man nachher wieder bergauf gehen muss, sondern auch, weil es in den Tälern nie so schön ist. Décazeville zum Beispiel ist nicht gerade eine Perle. Es liegt genau zwischen einem riesigen Krankenhaus und einem riesigen Friedhof. Es hieß eigentlich La Salle und musste im 19. Jahrhundert den Namen eines ehemaligen Industrieministers annehmen. Mittlerweile liegt die Industrie am Boden. Geblieben ist die Trostlosigkeit. So sind wir ins nahe Livinhac weitergewandert. Die Pilgerherberge ist besonders sauber, was wir Ursula aus Hof/Bayern verdanken. »Hallo«, schreibt sie, »ich war schon früh hier. Draußen hat es geregnet, und weil ich nicht wusste, was ich machen soll, habe ich begonnen, die gîte d’étape zu putzen.« (Aus unerfindlichen Gründen sagen Deutsche immer »die« gîte d’étape, obwohl das Wort auf Französisch männlich ist.) Jedenfalls haben wir in dem gîte d’étape John und Cecilia kennengelernt, zwei Schotten. John ist gerade in Pension gegangen. Er war als Oberförster Herr über einen Großteil der schottischen Wälder und verständlicherweise befremdet, als ich ihn fragte, ob es in Schottland überhaupt Wälder gebe.
Gibt es natürlich. Sogar sehr viele.
Wir bereiten unser Abendessen vor, während John und Cecilia uns von ihren Abenteuern auf dem spanischen Weg erzählen, den sie letztes Jahr gegangen sind. Einer ihrer Haupteindrücke war, dass in Spanien alles viel billiger ist als in Frankreich. Später geht jeder seiner Beschäftigung nach: lesen, schreiben, Landkarten studieren oder Nüsse knacken. Ja, John und Cecilia sammeln den ganzen Tag über Nüsse, die kiloweise ungenützt am Boden herumliegen – »what a waste«, »was für eine Verschwendung«, murmelt John immer wieder kopfschüttelnd in seinen Bart. Jetzt knacken sie die Nüsse und füllen sie platzsparend in Plastikbehälter. Sie schleppen schon mindestens zwei Kilo mit und haben vor, sich zu Hause Nusskuchen daraus zu machen. »Wisst ihr«, sagt John augenzwinkernd, »wir Schotten gelten als ziemlich sparsam.«
La Cassagnole, 4. Oktober
Schotten gelten bei mir ab jetzt nicht nur als sparsam, sondern auch als große Schnarcher. Vélimir war zwar noch um eine Spur besser, aber das Tonvolumen, das John so in den Raum gestellt hat, war auch nicht ohne. Ich weiß nicht – Barbara dreht sich einfach weg und schläft selig, und ich liege die halbe Nacht wach und höre jedes Geräusch. Wie sind diese langen Herbstnächte doch quälend! Ich bemühe mich immer, als Erster einzuschlafen, damit ich nichts hören muss, aber ebendiese Bemühung bewirkt, dass ich erst recht nicht einschlafen kann. Danach versuche ich, den Schnarcher zu überhören, was bewirkt, dass ich nur noch den Schnarcher höre. Dann versuche ich, durch Zungenschnalzen oder andere Unmutsäußerungen, den Schnarcher bzw. dessen Unbewusstes zu stoppen, was bewirkt, dass der Schnarcher bzw. dessen Unbewusstes seine Schnarchanstrengungen verdoppelt. Danach versuche ich es mit Beten. Und schließlich sitze ich im Bett und möchte am liebsten heulen. Letztendlich habe ich gestern meinen Schlafsack gepackt und mich auf den Küchenboden gelegt. Welch himmlische Ruhe!
Heute beim Frühstück erzählt John eine Anekdote: Letztes Jahr in Spanien habe ihn mitten in der Nacht eine sehr junge und sehr hübsche Pilgerin wachgerüttelt und geflüstert: »John! John!« Er habe sich schon die schönsten Hoffnungen gemacht, als sie hinzufügte: »Hör bitte auf zu schnarchen!«
Heute hat es nur wenig geregnet. Wir konnten uns an den Eichenwäldern erfreuen und an den Nüssen, Feigen, Trauben, Brombeeren. Die Mittagsjause haben wir unter einem sicheren Scheunendach eingenommen – mit den Schotten,
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