Lesereise - Jakobsweg
Juni 1998
Wie kommt man auf die eigenartige Idee, zwei Monate lang zu Fuß zur Kathedrale eines Heiligen zu wandern, von dem man vorher nicht einmal wusste, dass es ihn gibt? Viele Pilger glauben an die Vorsehung und belächeln einen, wenn man ihnen von »Zufällen« erzählt. Ich bin zwar kein großer Anhänger des magischen Weltbilds, weil ich glaube, dass wir Menschen uns das meiste selbst zaubern, aber irgendwie ging es schon ein bisschen verhext zu bei unserem Weg auf den Jakobsweg.
Wir – meine Frau Barbara und ich – wollten immer schon eine längere Reise machen, wussten aber weder wann noch wie, noch wohin.
Auf der Hochzeit von lieben Freunden lernte ich einen Mann kennen, der mir einen ganzen Abend lang faszinierende Geschichten von seinen Erlebnissen auf einem der ältesten Pilgerwege der Welt erzählte: dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Ich erfuhr nicht nur viel über das Leben eines modernen Pilgers, sondern auch über die Geschichte des Camino de Santiago, wie der Weg auf Spanisch heißt. Benannt ist er nach dem heiligen Jakob oder Jakobus dem Älteren, spanisch Sant Iago, französisch Saint Jacques. Jakob und sein Bruder Johannes gehörten zum »inneren Kreis« der Apostel Jesu. Jakob war einer der ersten Märtyrer: Um das Jahr 44 wurde er enthauptet. Von da an hören die relativ unumstrittenen Überlieferungen allerdings auf. Zwei Schüler des Jakob sollen seinen Leichnam von Jerusalem nach Galicien im Westen Spaniens, wo der Apostel angeblich missioniert hatte, gebracht haben. Dort habe Jakob seine letzte Ruhe gefunden – bis zum Jahr 813 oder 825, so genau weiß man das nicht. Da wurde ein frommer Einsiedler durch ein übernatürliches Licht über einem Feld (»campus stellae«, Sternenfeld) zum Grab des Heiligen geführt, woraufhin, kurz gesagt, Santiago de Compostela entstand.
Es ist sicher kein Zufall, dass parallel zu dieser Legendenbildung die Reconquista begann: nämlich die christliche Rückeroberung der islamisch beherrschten Iberischen Halbinsel. Diese Rückeroberung dauerte ihre Zeit, vom 8. bis ins 15. Jahrhundert etwa. Das lag auch daran, dass die Einwohner selbst mit der islamisch-maurischen Regierung zufrieden waren – Christen und Juden zum Beispiel genossen völlige Religionsfreiheit, die Wirtschaft blühte, die ersten Universitäten auf spanischem Boden entstanden. Doch dann kamen die christlichen Heere (Karl der Große soll den Anfang gemacht haben), und die Blütezeit von Poesie, Philosophie, Wissenschaft und Toleranz war vorbei. Die Christen nützten die Gelegenheit, nicht nur die Mauren, sondern nebenbei auch die Juden in der Region weitgehend auszurotten. Jakob wurde als Heiliger und als großer Krieger verehrt. Auf vielen alten Darstellungen in Spanien ist auch heute noch der Santiago Matamoros (»Maurentöter«) zu sehen, mit einem Schwert, hoch zu Ross, umgeben von den abgeschlagenen, dunkelhäutigen und kraushaarigen Köpfen der Feinde des Christentums.
Es dauerte nicht lange, bis Santiago als Pilgerstätte genauso berühmt war wie Rom und Jerusalem. 1078 wurde mit dem Bau der Kathedrale begonnen. Die alten Bücher sprechen von einem richtigen Pilgerboom zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert. Geschützt durch eine auf die Pelerine genähte Jakobsmuschel, pilgerte man zum Grab des Apostels, um für etwas zu danken oder um etwas zu bitten. Auch von Gerichten verordnete Strafwallfahrten sind bekannt. Ebenso gab es Delegationswallfahrten – bezahlte Profipilger, die im Auftrag eines Hilfesuchenden nach Santiago gingen.
Während der Reformation erlebte die Pilgerfahrt eine Krise. Erasmus von Rotterdam kritisierte die Geldgier des Apostels (Santiago lebte immer sehr gut von der Schröpfung der Pilger), und Martin Luther machte sich über den Heiligenkult von »Compostel« lustig, denn »man waißt nit, ob sant Jacob oder ain todter hund oder ein todts roß da liegt …«
Die wüsten Geschichten rund um den heiligen Jakob waren damit aber noch nicht zu Ende. 1879 wurde das Apostelgrab sozusagen »neu entdeckt« – man hatte nämlich vergessen, wo genau die Gebeine des Heiligen lagen. Bei Grabungen in der Kathedrale fand man tatsächlich ein paar Knochen, die seit einer päpstlichen Bulle unzweifelhaft jene des Apostels sind. 1937 trug General Francisco Franco das Seine dazu bei, den Apostelkult endgültig suspekt zu machen, indem er den Jakobustag (25. Juli) zum spanischen Nationalfeiertag und den heiligen Jakob zum Landespatron machte.
Auch heute wird
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