Lesereise New York
Besucher von New York erhofft – Aufregung, Unterhaltung, Stimulation. Die Dauerverstopfung der verkehrsreichsten Kreuzung Amerikas mit ihren verzweifelten Taxifahrern, suizidalen Fahrradkurieren und Hunderttausenden flanierenden Besuchern aus aller Welt bietet auf Straßenebene die »typische« Manhattan-Erfahrung der berauschenden Dichte.
Wenn man dann aber genau hinschaut, was es am Times Square zu erleben gibt, ist die Enttäuschung groß. Die Geschäfte sind Niederlassungen globaler Ketten – man kann im Disney Store ein Micky-Mouse-Kostüm für die kids kaufen, in Toys’R’Us die neueste Barbiekollektion oder sich in Forever 21 mit der neuesten Teenie-Mode eindecken. Es gibt nichts hier, was eine Familie aus dem Mittleren Westen nicht auch in der shopping mall vor ihrer Haustür findet. Um die Gastronomie ist es nicht besser bestellt – man hat die Wahl zwischen Massenabfertigung im überteuerten Planet Hollywood oder im ebenso überteuerten Hard Rock Cafe, die jeweils identisch auch in Los Angeles, London oder Hongkong zu finden sind. Das Beste am neuen Times Square ist noch die große erdbeerrote Freitreppe mitten auf dem Father Duffy Place, wo man sich niederlassen und all das Blinken und Wuseln so lange auf sich wirken lassen kann, bis das Kopfweh einsetzt.
Das digitale Dauerflimmern des Times Square ist Kernbestandteil der »Marke« Times Square. Die Public-Private Partnership Times Square Alliance, die die Neubebauung des Platzes geplant und durchgeführt hat, hat die Montage von Neon- oder Plasma-Anzeigen an den Fassaden zur Auflage gemacht. Es ist Zweck und Wiedererkennungsmerkmal des Times Square, zu funkeln.
Die Identität des Platzes als glitzerndes Zentrum New Yorks stammt aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als er genau das war. Kein Platz der Welt machte damals einen derart verschwenderischen Gebrauch von der noch neuartigen elektrischen Leuchtschrift. Die zahllosen Theater, Kabaretts, Jazz- und Tanzclubs versuchten sich im Kampf um das elegante New Yorker Publikum mit größeren, bunteren Neon-Schriftzügen gegenseitig auszustechen.
Anders als heute steckte damals hinter den Lichtern der Großstadt allerdings tatsächlich jene Aufregung und Dekadenz, die heute am Times Square nur noch eine vage Erinnerung sind, eine Sehnsucht, die kaum ein Besucher mehr genau verorten kann. Es ist, wie der Städtetheoretiker Rem Koolhaas, Verfasser des Manhattan-Manifests »Delirious New York« schreibt, die »Erinnerung an eine Erinnerung«. Die Vergangenheit, die hier vorgeblich erhalten wird, ist unendlich weit entfernt, schreibt Koolhaas weiter, es ist, als sähe man sie durch das falsche Ende eines Teleskops.
Was uns zurück in die John-Varvatos-Boutique im East Village bringt. Zu der Zeit, in der ich am Times Square Lektoratspraktikant war, lebte ich im East Village. Das CBGB war damals noch in vollem Betrieb, Nacht für Nacht kreischten schrille Gitarrenklänge aus dem grottigen Barraum auf die Bowery, wo die Punks und die, die es sein wollten, gemeinsam mit den Pennern der Bowery standen und sich mit billigem Fusel zudröhnten.
Das East Village war damals Zentrum einer authentisch gewachsenen Gegenkultur. Seit den fünfziger Jahren waren Künstler, Dichter, Hippies und Aussteiger aus dem immer teurer werdenden Greenwich Village in das bis dahin vernachlässigte Viertel polnischer, ukrainischer und puertorikanischer Einwanderer geströmt. Sie hatten sich in den vernachlässigten Mietshäusern eingenistet, wo man praktisch umsonst leben konnte, und eine einzigartig fruchtbare kreative Umgebung geschaffen. Charlie Parker lebte und spielte hier ebenso wie Lou Reed. Jean-Michel Basquiat und Keith Haring malten im East Village, und wenn man im ukrainischen Diner Odessa am Tompkins Square für zwei Dollar gebratene Eier frühstückte, traf man nicht selten den Beat-Dichter Allen Ginsberg an.
Im Tompkins Square Park selbst stand damals eine Zeltstadt, in der Obdachlose unbehelligt leben konnten, unterstützt und versorgt von den Anarchisten und Punks, die umliegende Häuser besetzt hatten. Es wurden Essensreste von den Restaurants im Viertel gesammelt, Altkleider, ja sogar Duschen wurden aufgestellt. Es war ein aggressiver Akt der Aneignung öffentlichen Raumes und der Weigerung, die von der Obrigkeit verordneten Nutzungsbeschränkungen zu akzeptieren – ein Akt, der die »Occupy«-Bewegung um mehr als dreißig Jahre vorwegnahm.
Anfang der neunziger Jahre wurde der Tompkins Square dann
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