Lesereise New York
Schwierigkeiten.« Und doch brodelte die Spannung zwischen den Rassen immer unter der Oberfläche und brach sich immer wieder Bahn.
So wie in meinem Lieblingsjazzclub, dem St. Nick’s Pub an der 148th Street. Eines Abends war ich mit einem weißen Freund aus downtown dort und wir nahmen uns die beiden letzten Stühle in dem dicht gedrängten, winzigen Kellergewölbe. Dabei übersahen wir, dass eine junge schwarze Frau einen Stuhl für ihren Freund frei gehalten hatte. »Das ist wieder typisch«, sprudelte es sofort aus ihr heraus. »Ihr Weißen kommt hierher in eine schwarze Gegend, macht euch breit und tut sofort so, als würde euch alles gehören.«
In solchen Momenten spürte man, dass das Thema Rasse immer präsent war, auch wenn das nur selten offen zur Aussprache kam. Nur in den Wochen unmittelbar nach der Wahl Obamas war das anders, man hatte in Harlem das Gefühl, plötzlich in einer anderen Welt zu leben. Es herrschte eine neue Offenheit, man schien auf allen Seiten dazu bereit, Obamas Utopie einer postrassischen Gesellschaft auszuprobieren.
Mehr Weiße wagten sich von downtown über den Äquator der 110th als je zuvor. Der St. Nick’s Pub war freitagabends ein multikulturelles Babel. An der Theke saßen wie immer ältere schwarze Männer, die mit ihren Nadelstreifenanzügen und Pomadenfrisuren so aussahen, als kämen sie schon seit den vierziger Jahren hierher. Dazwischen drängten sich elegante schwarze, weiße und gemischte Paare, weiße Hipster aus downtown sowie japanische Jazztouristen, die konzentriert dem jam lauschten.
Die schwarzen Stammgäste begrüßten in diesen Tagen die Weißen beinahe überschwänglich und suchten das Gespräch, und es war nichts mehr von der Spannung zu spüren, die sonst in Harlem allgegenwärtig ist, wenn Weiße auftauchen.
Von dieser neuen Offenheit beschwingt kamen die Weißen bald nicht mehr nur zum Jazz. Der Zuzug von Nicht-Schwarzen nach Harlem beschleunigte sich nach 2008 dramatisch. Ende 2009 behauptete eine Statistik, dass in Harlem erstmals seit den zwanziger Jahren die Afroamerikaner nicht mehr in der Mehrheit waren. Hauptgrund dafür war das rasante Anwachsen der hispanischen Gebiete in Spanish Harlem, der Gegend nördlich der 110th und östlich der Park Avenue. Central Harlem war noch immer solide afroamerikanisch. Aber auch der weiße Zuzug beschleunigte sich. Unter den Weißen, die 2010 in Harlem lebten, waren zweiundzwanzig Prozent im Lauf des Jahres hier heraufgezogen.
Zu jeder anderen Zeit hätte all das in Harlem für einen Aufschrei gesorgt. Und natürlich wurde auch diesmal von Identitätsverlust gesprochen. Die New York Amsterdam News druckte Leitartikel über den Ausverkauf, das schwarze Nachrichtenportal Black Agenda spekulierte über eine Verschwörung: »Es gibt einen Plan, New York City nur noch für wohlhabende Weiße bewohnbar zu machen und er schreitet mit großen Schritten voran. Wenn Viertel profitabel werden, werden die schwarzen Bewohner plötzlich verzichtbar.«
Doch 2009 war noch immer Obama-Frühling und so überwogen die freundlicheren Stimmen. Man beschwor die Harlem Renaissance herauf, die Blütezeit Harlems in den dreißiger und vierziger Jahren, als Harlem zwar auch schon ein überwiegend schwarzes Wohnviertel war, aber die Jazzclubs und Tanzsäle durchmischt waren und eine schwarz-weiße Mittelschicht in den besseren Gegenden koexistierte.
Doch im Verlauf des Jahres 2010 machte sich in Harlem zunehmend die Ernüchterung breit. Wie überall in den USA war man von der Zahnlosigkeit des neuen Präsidenten enttäuscht und von der anhaltenden Wirtschaftskrise frustriert. Und wieder einmal waren die Afroamerikaner in schweren Zeiten die größten Leidtragenden. Während anderswo in New York die Arbeitslosenquote nach dem Börsencrash auf zehn Prozent stieg, war sie in Harlem auf achtzehn Prozent hinaufgeschossen.
Als ich im Herbst 2010 einer Suppenküche im Keller der Soul Saving Station, einer Kirche an der 124th Street, einen Besuch abstattete, traf ich eine der Verzweiflung nahe Gemeindevorsteherin an. »Es kommen jeden Tag mehr Leute, die sich nichts mehr zu essen kaufen können«, sagte Pfarrerin Beverly Oliver, eine stämmige Schwarze mit kurz geschorenem Haar und wagenradgroßen Ohrringen. Gleichzeitig bekomme sie jedoch immer weniger Zuwendungen aus privater und öffentlicher Hand. »Ich strecke die Mahlzeiten immer mehr«, sagte sie. »Aber bald weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.«
Im November 2010 verloren dann
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