Lesereise New York
die Reise von einem, der auf der Suche nach einem besseren Leben nach Harlem kommt und von den harten Realitäten ernüchtert wird. Harlem, schließen sowohl Ellison als auch Rhodes-Pitts, ist eine Fantasie. In Wirklichkeit war Harlem immer ein Slum, der weißen Grundbesitzern gehörte.
Daran hat auch Obama nichts geändert. Wenn Rhodes-Pitts das Gerede von der »postrassischen Gesellschaft« hört, dann muss sie mit den Augen rollen. Für sie ist dieses Label nur ein Mittel, der Existenz eines eigenständigen schwarzen Stadtbezirks die Legitimität abzusprechen.
Als liberaler Weißer möchte man darauf entgegnen, dass die Selbstsegregation der Afroamerikaner doch ein Anachronismus sei, und dass sie doch auch die soziale Ungleichheit zementiere. 2008 hätte ich das vielleicht auch noch gesagt. Doch ich bleibe lieber stumm und nicke.
Die Nacht zum 6. November 2012 beginnt in Harlem wie eine ganz gewöhnliche Nacht, man merkt kaum, dass dies ein besonderer Abend ist. Anders als in der Wahlnacht vor vier Jahren ist die Stimmung gedämpft, es ist beinahe gespenstisch ruhig. An der 125th Street, wo sich 2008 Hunderttausende vor einer Großleinwand versammelt hatten, um die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten zu feiern, brummt der Verkehr unbeeindruckt durch die Nacht. Die First Corinthian Baptist Church ist dunkel und still.
»Die Menschen sind nachdenklich«, sagt Ron Hansford, ein schwarzer Modedesigner aus Harlem, während er bei einer Wahlparty im Schomberg-Kulturzentrum an der 135th Street seinen Rotwein schlürft. Natürlich hat Hansford, so wie die meisten hier in Harlem, wieder für Obama gestimmt. Nur eben nicht mehr mit derselben Verve.
Doch als sich im Lauf das Abends Obama zentimeterweise einen Vorsprung erkämpft, weicht in Harlem zunehmend die Zurückhaltung. Im Ginny’s Supper Club, dem beliebtesten Treffpunkt des eleganten jungen Harlem an der 125th Street, bricht die Menge in lauten Jubel aus, als um halb zehn die Staaten New Jersey und Pennsylvania offiziell an Obama gehen. Als eine Stunde später der Wackelstaat Ohio fällt, ist bei Ginny’s die Party schon in vollem Gang, man schwoft zu alten Motown-Klängen durch den Saal. Vier weitere Jahre liegen in der Luft. Um dreiundzwanzig Uhr achtzehn gibt der Kabelsender CNN auf der Großleinwand am Ende des Raumes dann offiziell den Sieg von Obama bekannt. Der DJ legt »We are family« von Sister Sledge auf und dreht den Regler hoch.
Im Saal macht sich Ausgelassenheit breit, es wird auf den Tischen und auf den Bänken getanzt, die Menschen umarmen sich oder klatschen sich ab wie Basketballer nach einem gelungenen Spielzug. Doch es ist nicht annähernd dieselbe Ekstase, die sich vor vier Jahren auf die 125th Street gelegt hatte. Eher Erleichterung. Es hätte auch schlimmer kommen können.
Geisterstadt der Zukunft
Der Masterplan von 1811 wollte ein wohlgeordnetes modernes New York schaffen. Stattdessen gebar er das größte Chaos der westlichen Hemisphäre
Übersichtlichkeit ist sicherlich eines der letzten Adjektive, das einem in den Sinn kommt, wenn man heute auf der Aussichtsplattform des Rockefeller Center steht und auf die »wunderbare Katastrophe« hinabblickt, als die FAZ -Korrespondentin Sabina Lietzmann einmal New York bezeichnet hat. Manhattan ist eine Anhäufung von Puzzleteilen, die niemand richtig zusammengesetzt hat, ein Chaos von Bauformen und Dimensionen, so wirr und inhomogen und gleichzeitig betörend wie ein Spaziergang den Broadway hinunter. New York ist ein Attentat auf die Sinne, die vor der Aufgabe, daraus ein begreifbares Ganzes zu bauen, immer kapitulieren müssen.
Simeon De Witt, John Rutherford und dem New Yorker Gouverneur Morris hätte diese Aussicht wohl nicht gefallen. Als sie 1811 den Generalplan für die Besiedlung und Bebauung von Manhattan anfertigen ließen, strebten sie vor allen Dingen nach einem: Ordnung. Das Grundprinzip ihres Originalplans war der Raster, den die Römer schon benutzt hatten, damit ihre Legionäre sich in den Siedlungen ihrer Kolonien auf Anhieb zurechtfinden konnten. Die Größenordnung, in der für New York ein Netz an regelmäßigen Quadranten über eine noch unerschlossene Landschaft gelegt wurde, war jedoch bis dato noch nie da gewesen.
New York war damals eine kleine Ansiedlung am Südzipfel von Manhattan, nördlich der heutigen Canal Street bestand sie weitestgehend aus Farmland. Harlem etwa war noch ein Dorf, eine gute Tagesreise entfernt. Gerade einmal sechsundneunzigtausend
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