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Lesereise Nordfriesische Inseln

Lesereise Nordfriesische Inseln

Titel: Lesereise Nordfriesische Inseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristine von Soden
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sich um den Erhalt und die Pflege der nordfriesischen Kultur kümmert. Wenig später zeigt ein Wegweiser zur Hamburger Hallig. Scheibe runter und schon mal schnuppern. Doch das Meer ist noch zu weit entfernt, um den Tang zu riechen, das Salz auf den Lippen zu schmecken oder ein bisschen frische Brise zu spüren. Außerdem ist unser Ziel weiter nördlich in Dagebüll: der Fähranleger nach Amrum/Föhr. Ein aufregendes Kribbeln stellt sich jedes Mal ein, als würde ein neuer Lebensabschnitt bevorstehen, eine Generalinventur von Haben und Sein, sobald uns die eine, alles entscheidende Linkskurve von der Hauptstraße runter zu den Kögen und Deichen bringt. Es ist erst kurz vor sechs. Die saftigen Marschen liegen noch im Schlaf, von Tau bedeckt. Dunst verwischt alle Konturen, lässt Feen und Kobolde umherhuschen. Wäre jetzt November, käme der Schimmelreiter über den Graspfad galoppiert. Aber wir haben Mai.
    Seit über tausend Jahren werden an der nordfriesischen Küste Deiche gegen die Urgewalten des Meeres gebaut. Anfangs anderthalb Meter hoch, was fast schon himmelstürmend erschien, indes nicht im Geringsten ausreichte, um die schweren, Land verschlingenden Fluten abzuwehren. »Mandränken« schimpfte man die Naturkatastrophen, zum Beispiel von 1362, als die nordfriesische Küste, die damals noch einen weit ausholenden, geschlossenen Rundbogen zwischen Sylt und der Halbinsel Eiderstedt bildete, in wenigen Stunden für immer von der Landkarte radiert wurde, oder 1634, als ein Orkan die Insel Alt-Nordstrand zerriss und zerschlug, bis nur noch drei Teile übrig blieben: die Hallig Nordstrandischmoor, Pellworm und Nordstrand. Heute sind die nordfriesischen Deiche acht Meter hoch mit einer Gesamtlänge auf dem Festland und auf den Inseln von achthundertfünfzig Kilometern, was der Luftlinie Flensburg–Innsbruck entspricht. Kein Bollwerk in Europa kann sich in Dimension und technischem Know-how mit diesen Wasserwällen messen, wird in Fachkreisen erklärt. Deus mare, Friso litora fecit – Gott schuf das Meer, der Friese die Küste.
    Sich den Dingen des Lebens stellen. Und sich selbst. Das sind die Elementarthemen, die hier, ganz oben in Deutschland, auf der Agenda stehen. Schnörkellos und unmittelbar. Der Landstrich fordert das, ohne es ausdrücklich zu formulieren, pfeift auf einstudierte Performances, um zu gefallen, verteilt keine Garantiescheine, macht keine hohlen Versprechungen. Nordfriesland ist wie es ist: authentisch, rau und herzlich. Um Zugang muss man sich selbst bemühen. Dem einen gelingt das, dem anderen nicht. Man ist auf Anhieb fasziniert oder kommt nie wieder. Letzteres vielleicht auch, weil Ebbe und Flut, die den Alltag an der Küste rund um die Uhr dominieren, ständig daran gemahnen, dass das Leben einen Zyklus hat. Die Nordsee steht nie still. Zeigt nie nur ihre in sich ruhenden Seiten, allzeit bereit für ein Unterhaltungsvideo. Im Nu schlägt sie um, braust sie wild auf, reißt sie den Boden fort, auf dem wir eben noch standen, führt sie vor, dass alles einen Anfang und ein Ende hat. Im Großen wie im Kleinen. Für uns immer wieder Anlass und Motivation, darüber nachzusinnen, wie wir mit unserer Zeit umgehen, womit wir sie ausfüllen, verschwenden, überstrapazieren, denn irgendwann gibt es sie nicht mehr. »Was macht die Zeit, wenn sie vergeht?«, fragte Albert Einstein. Zeit zu haben, ist ein Geschenk.
    Sobald wir die Deiche sehen, spüren wir darum tatsächlich eine Zäsur. Und wie auf Knopfdruck krempeln wir die Ärmel hoch, entschlossen, alles Seelengerümpel auszusortieren, nicht mehr Stimmiges über Bord zu werfen und Abstand zu schaffen zum pseudotherapeutischen Wahn, pausenlos positiv denken zu müssen und aus jeder Leitung zu hören: »Was kann ich für Sie tun?«
    Unser Tag verspricht, hell und licht und warm zu werden. Keine Düsternis, keine Nässe. Und wenn schon. Wir freuen uns wie blöd auf Amrum. Ach, und da stehen sie ja bereits zum stillen Empfang auf dem Deich: die prächtig ernährten wolligen Kameraden, die das Gras stoppelkurz halten, den Boden festtreten und seit Menschengedenken einen unschätzbaren Beitrag zum Deichschutz leisten. Rund hundertfünfundsechzigtausend Schafe leben in Nordfriesland, genauso viele Einwohner hat der Kreis. Dutzende von Lämmern purzeln die Deichböschung herab, spielen mit Schmetterlingen oder schmiegen sich ins kuschelweiche Fell ihrer Mutter. Der Frühling ist da.
    In wenigen Wochen haben die Lämmer nichts mehr zu lachen. Werden aus

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