Lesereise Nordfriesische Inseln
ist erst Dienstag.
Auf der Tanzfläche des Meeres
Der Kniepsand von Amrum – Europas größter Strand
Alle Wetter sind hier der Wahnsinn. Klirrende Kälte im Winter, wenn die Schneekristalle auf dem Sand blitzen, die Buhnen weiß bemützt sind und sich der Strand wie eine grenzenlose arktische Landschaft gibt. Oder im Herbst, wenn scharfe Westwinde mit achtzig Sachen über den Sand fauchen, man kaum noch stehen kann und die Haut nicht mehr gestreichelt, sondern frottiert wird. Nie werden wir jenen Neujahrsmorgen vergessen, als wir uns frostfest eingepackt über den Bohlenweg durch die firnig funkelnden Dünen zum Kniepsand aufmachten: Die ganze ausgebuchte Insel, so hatte es den Anschein, traf sich auf der Tanzfläche des Meeres, um den Puls des ersten Tages zu fühlen und jenen Cocktail reinster Meeresluftmineralien zu genießen, der Lebensglück und Fitness verspricht – ohne Gebührenpflicht! Begrüßungen, Umarmungen, Küsschen, Moin, Moin !
Amrums Kniep ist ein Geschenk des Meeres, eine Sandbank, die Wind und Wellen über Jahrhunderte herangeschafft haben. Nicht von den Kliffabbrüchen auf Sylt, wie oft gemutmaßt wird, sondern aus den Meeresgründen geschaufelt und geschoben und bis zu zwei Meter über dem Mittleren Hochwasser aufgehäuft. Im Laufe der Zeit wuchs eine Fläche von über elf Quadratkilometern – Europas größter Strand.
Keiner weiß, was das nach Salzgischt schmeckende Wort »Kniep« bedeutet, woher es stammt. Mit Kneipp hat es natürlich rein gar nix zu tun. Aber dieses Buchstabenspiel bringt uns auf eine Idee: Speziell »ausgiebige Kaltbäder bei fünf bis zehn Grad« predigte der Pfarrer aus Ottobeuren als »vorzügliches Mittel«, die eigenen Kräfte zu stählen. Von der Donau in die Fluten am Norddorfer Strand verpflanzt, ließen sich aus der Kneipp’schen Philosophie schlaue Buchungspakete schnüren, um im mauen touristischen Februar die Inselbetten zu füllen.
Oft hat der Kniep sein Antlitz verändert. Tut er noch. Das bemerkt vor allem der Dauergast, sobald er nach Verlassen der Fähre seinen Fuß in den Sand setzt und über die veränderte Anordnung der Strandkörbe im Areal der Strandkorbvermietung Boyens staunt. So ist die mehrere Hundert Meter lange Reihe Strandkorb neben Strandkorb nahe am Flutsaum vergleichsweise neu. Gern zahlt man für die exklusive Lage einen Aufpreis. Und wenn die alle zwei Wochen tobende Springflut den Kniep überschwemmt, werden die Körbe ruckzuck einkassiert und am nächsten Tag, wenn das Naturschauspiel vorbei ist, in neuer Choreografie aufgestellt. Zurück auf Los heißt es dann für die Gäste – mit neuen Strandkorbnachbarn (manchmal eine Wohltat, manchmal schade!) und neuem Meeresblick.
Anno 1585 ist Amrums Kniep erstmals auf einer Seekarte in ungefähren Umrissen zu sehen. Und zwar als Arm, der zwischen Wriak Hörn und Satteldüne nach Nordwesten ins offene Meer greift. Später rückte er ein deutliches Stück näher an die Inselküste heran, wodurch ein Naturhafen entstand, der Kniephafen – eine phänomenale Erscheinung auf der Seeseite! Noch um 1850 gingen hier Handelsschiffe vor Anker, und bis zur Reichsgründung betrieben Fischer im Kniephafen Austernzucht. In rauen Mengen strichen sie die Schalentiere mit Strikiesen , bis die Austernbänke keinen Mucks mehr von sich gaben. Auf der Höhe des Quermarkenfeuers Richtung Nebel sammeln wir im Juni und September, unseren alljährlichen Auszeiten auf Amrum, angespülte Austernschalen: blauschwarze, silbergraue, sandfarbene, manche durchlöchert vom Bohrschwamm, andere von Seepocken befallen. Bei ablaufendem Wasser liegen die Meeresgrüße aus der Vergangenheit zu Dutzenden am Strand. Noch aus der Zeit des Kniephafens?
Um 1890 begann der Hafen allmählich zu versanden und der Kniep Richtung Nordspitze, der Amrum Odde, zu wandern. In dichten Schleiern flatternder Sandfahnen huschten die feinen weißen Sandkörner, Strandläufer vor sich hertreibend, über die brettartige Weite des Kniep und veränderten abermals sein Aussehen. Dünen häuften sich auf, bewachsen mit Strandroggen, Strandhafer und Strandtausendgüldenkraut. Stranddisteln findet man heute leider nicht mehr am Kniep. Manche rissen Sturmfluten mit. Andere haben die Kaninchen auf dem Gewissen, deren Einwohnerzahl auf Amrum ungefähr jener der Inselbevölkerung entspricht. Nicht selten aber auch fielen die graublauen Dolden der Gartenschere zum Opfer und fristeten ein neues Dasein im Trockenblumenstrauß. Auf den Tüten einer
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