Letale Dosis
nach dem dritten Läuten.
»Fink.«
»Guten Abend, Laura. Hier ist Marianne Rosenzweig. Ich bitte dich … ich meine … könntest du so schnell wie möglich herkommen? Ich glaube, mein Mann ist tot.«
»Dein Mann? Wie … Einen Moment, ich ziehe mir nur schnell was über und werde so in zehn Minuten dasein.«
Laura Fink traf um kurz nach neun bei den Rosenzweigs ein. Die beiden Söhne Joseph und der achtzehnjährige Aaron saßen mumiengleichauf der Couch und blickten die junge Ärztin hilfesuchend an.
»Wo ist er?« fragte Dr. Fink, eine mittelgroße, eher unauffällige Erscheinung mit kurzen, braunen Haaren und einer fast knabenhaften Figur, die sie unter einem T-Shirt, Jeans und Leinenschuhen versteckte.
»Oben, in seinem Arbeitszimmer. Komm mit.« Marianne Rosenzweig schloß die Wohnzimmertür hinter sich und bat sie, ihr in den ersten Stock zu folgen. Sie öffnete die Tür, Laura Fink blieb kurz stehen, kniff die Augen zusammen, holte tief Atem und ging langsam auf den Schreibtisch zu, dessen halbe Platte mit Blut bedeckt war. Die Ärztin klappte wortlos ihre Tasche auf, holte eine Taschenlampe heraus, leuchtete in die Augen des Toten, dann zog sie Gummihandschuhe über und suchte nach dem Puls, der nicht mehr vorhanden war.
»Seltsam«, sagte sie nach einem Moment des Überlegens kopfschüttelnd und sah Marianne Rosenzweig an, die starr wie eine Statue in der Mitte des Raumes stand und mit ausdrucksloser Miene die Augen auf ihren Mann gerichtet hatte. »Wie du sicherlich weißt, war dein Mann noch vor einer Woche bei mir, um sich einem Generalcheck zu unterziehen. Bis auf seine Diabetes war er körperlich völlig in Ordnung, seine Blutwerte lagen im Normbereich, und auch sonst konnte ich keinen körperlichen Defekt wie zum Beispiel einen Herzfehler feststellen. Wir haben allerdings kein EKG gemacht, dazu bestand absolut kein Anlaß.« Sie stand jetzt direkt neben dem Toten, schüttelte erneut den Kopf. »Es ist dieser erhebliche Blutverlust, den ich mir beim besten Willen nicht erklären kann. Es gibt zwar einige eher seltene Krankheiten, die derartige Blutungen auslösen können, doch keine davon kommt bei deinem Mann in Frage. Wie gesagt, seine Laborwerte waren, bis auf den Blutzuckerspiegel, absolut in Ordnung, weshalb mir diese massiven Blutungen sehr rätselhaft sind. Wann hast du ihn gefunden?«
Marianne Rosenzweig blickte schnell auf, räusperte sich, sagte: »Bitte? Ah, Entschuldigung, ich bin etwas durcheinander. Vor etwa zwanzig Minuten. Wir hatten unseren Bibelabend, dann klingelte das Telefon, er ist in sein Zimmer gegangen, hat aber gesagt, er wäre gleich wieder da. Als er nach einer Viertelstunde nicht wieder herunterkam, wollte ich einfach sehen … Und dann habe ich ihn gefunden.«
»Und was hat er hier gemacht?«
»Ich nehme an, er hat sich wie immer nach dem Abendessen sein Insulin gespritzt.«
»Mit dem Pen?« fragte Laura Fink, die Stirn in Falten gezogen.
»Nein, seiner ist vor ein paar Tagen kaputtgegangen, und er hatte noch keine Zeit, sich einen neuen zu besorgen. Deshalb mußte er wieder die Spritze nehmen.«
»Und wo ist das Insulin?«
»Er bewahrt es in der rechten oberen Schreibtischschublade auf. Warum fragst du?«
Dr. Laura Fink zog die Schublade heraus, nahm das Glas mit der opaken Flüssigkeit zwischen zwei Finger, roch daran, schüttelte den Kopf. Sie stellte das Glas auf den Tisch und nahm die Spritze, betrachtete sie eingehend und legte sie schließlich neben das Glas. Sie blickte Marianne Rosenzweig ratlos an, zog die Handschuhe aus, fragte: »Wie geht es dir? Brauchst du irgend etwas, zur Beruhigung, meine ich?«
Sie bewegte kaum merklich den Kopf, in ihren Augen war eine unendliche Leere. »Nein, ich brauche nichts. Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Ich werde auf dem Totenschein vermerken ›Todesursache ungeklärt‹ und dann die Polizei rufen …«
»Polizei?« fragte Marianne Rosenzweig ungläubig. »Warum die Polizei?«
»Nun, so leid es mir tut, aber ich kann die Todesursache deines Mannes nicht bestimmen. Zumindest fehlen mir dazu die Mittel.Ich bin nur eine einfache praktische Ärztin. Es muß herausgefunden werden, woran dein Mann gestorben ist.«
»Er ist tot, reicht das denn nicht?«
»Leider nein. Du siehst doch selber, daß hier kein natürlicher Tod vorliegt. Ich kann auf den Totenschein nicht einfach schreiben: ›Tod durch Herz- und Kreislaufversagen‹, denn diese Todesursache ist nur sekundär, schließlich ist jeder Tod letztendlich
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