Letale Dosis
Gespräch. Ich bin gleich zurück.«
Mit langsamen, bedächtigen Schritten stieg er die Treppe hinauf, ein großgewachsener, schlanker Mann mit fülligem, grauem Haar. Im ersten Stock angelangt, ging er bis zum Ende des Flurs und öffnete die Tür, hinter der sich sein Arbeitszimmer befand. Er betrat es, schloß die Tür hinter sich, begab sich zum Schreibtisch, nahm den Hörer ab. Er sagte nur »Ja«, und »Sicher, gleich, ich dich auch« und »Bis morgen«.
Nach dem Telefonat setzte er sich auf seinen braunen Ledersessel, zog die rechte obere Schublade auf, holte die Spritze und das kleine Glas heraus, schraubte den Deckel ab, steckte die Nadel in die helle, opake Flüssigkeit und zog die Spritze auf. Er öffnete zwei Knöpfe an seinem Hemd, stach die Nadel unter die Haut über der Bauchdecke und drückte den Inhalt aus der Spritze. Er zog die Nadel heraus, blieb sitzen, legte die Spritze zusammen mit dem Glas zurück in die Schublade.
Er wollte gerade sein Hemd zuknöpfen, als er sich mit einem Mal an den Brustkorb faßte; er wollte schreien, rang nach Luft, sein Herz schien seinen Körper verlassen zu wollen. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, er war nicht fähig, sie zu bewegen, nicht fähig, zu schlucken, seine Augenlider gehorchten nicht mehr, seine Augen waren starr auf einen Punkt im Zimmer gerichtet. Und was er sah, sah er doppelt. Er schmeckte das Blut, das aus irgendeiner winzigen Wunde in seinem Mund trat, sah, wie Blut aus seiner Nase auf den Schreibtisch tropfte. Er wollte sich von seinem Platz erheben, doch seine Beine gehorchten nicht, genauso wenig wie seine Hände, mit denen er zum Telefon greifen wollte. Sosehr er sich auch anstrengte, er vermochte kaum noch zu atmen, ein bleierner Gürtel, der immer enger um seine Brust gezogen wurde. Er schmeckte Blut, er sah Blut, spürte, wie alles in ihm sich allmählich auflöste. Er wollte schreien, seine ganze panische Angst hinausschreien, doch außer einem kaum hörbaren Krächzen drang kein Laut aus seiner Kehle. Er wußte, daß etwas Furchtbares mit ihm geschah, daß der Tod nur eine Frage von Minuten oder gar Sekunden sein würde. Doch er wußte nicht, warum er starb, warum er sterben mußte. Er versuchte ein weiteres Mal, aufzustehen, befahl seinen Beinen, ihn zu stützen, statt dessen sank er langsam nach vorn, sein Kopf schlug auf die Schreibtischplatte, ein Zittern und Zucken raste durch seinen Körper, ein letzter, verzweifelter Versuch, Luft zu bekommen, dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Hans Rosenzweig war tot.
Als er auch nach einer Viertelstunde nicht wieder im Wohnzimmer erschien, ging Marianne Rosenzweig nach oben, um nach ihrem Mann zu sehen. Sie klopfte an die Tür, und als niemand antwortete, betrat sie das Zimmer. Das erste, was sie sah, war das zu einer Grimasse verzerrte Gesicht mit den weitaufgerissenen, starren Augen, das Blut, das aus seinem Mund und der Nase gelaufen war und sich über den Schreibtisch verteilt hatte. Sieschluckte schwer, trat näher an den Schreibtisch, sah ihren Mann an. Kaum eine Regung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie sagte nur leise und fassungslos: »O mein Gott, warum?« Sie wagte nicht, noch einen Schritt näher an ihn heranzugehen, sie sah ihn nur an, regungslos, unfähig, sich zu bewegen. Nach einem Moment löste sie sich aus ihrer Starre; ohne etwas berührt zu haben, begab sie sich wieder nach unten, blieb vor ihren Söhnen stehen, sagte mit schwerer, bedächtiger Stimme: »Jungs, ihr müßt jetzt stark sein. Ich glaube, euer Vater ist tot.«
»Was?« fragte der dreizehnjährige Joseph entsetzt und ließ die Bibel auf den Tisch fallen. »Papa ist tot?«
»Ich fürchte ja. Es sieht fast so aus, als hätte er einen Herzinfarkt gehabt. Ich werde gleich Schwester Fink anrufen.«
»Dürfen wir nach oben gehen und …«
»Nein«, sagte Marianne Rosenzweig bestimmt. »Ihr geht nicht nach oben. Euer Vater ist tot, und ich möchte nicht, daß ihr ihn so seht.« Sie ging zum Telefon, nahm den Hörer in die Hand, wählte die Nummer von Dr. Laura Fink, ihrer Hausärztin. Nur der Anrufbeantworter meldete sich mit der Ansage, welcher Arzt in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte. Sie legte auf, bevor die Ansage zu Ende war, griff nach ihrem braunen Telefonbuch, in dem sie die Privatnummer von Laura Fink notiert hatte, ein Vorzug, der nur einigen auserwählten Patienten vorbehalten war. Aber sie kannten sich schon so lange, daß sie ohne Bedenken bei ihr anrufen konnte. Sie meldete sich
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