Letale Dosis
gab vor, sich an nichts erinnern zu können. Also würde man diesen Fall bald zu den Akten legen.
Sie rauchte die Zigarette zu Ende, drückte sie aus, nahm die Bierdose und ging damit zum Fenster, das weit offenstand. Es war beinahe windstill, der nächtliche Himmel wolkenlos, aus den Bäumen drang noch vereinzelt das zaghafte Zwitschern von Vögeln. Aus einem Nachbarhaus erklang Klaviermusik, von irgendwoher kamen laute, sich zankende Stimmen. Sie wollte gerade einen Schluck nehmen, als das Telefon klingelte. Nach dem dritten Läuten hob sie ab, meldete sich. Sie hörte dem Beamten vom KDD zu, sagte nur, sie würde in etwa einer Viertelstunde mit einem Kollegen da sein. Sie trank die Dose halbleer, stelltesie in den Kühlschrank, rief kurz bei Hauptkommissar Frank Hellmer an, zog sich Jeans, eine blaue Bluse und Tennisschuhe an, nahm ihre Handtasche vom Sofa, machte den Fernsehapparat aus und verließ die Wohnung. »Scheißbereitschaft«, murmelte sie verärgert, während sie die Treppe hinunterging.
Hellmer, der seit knapp einem Jahr mit seiner Frau Nadine in einer noblen Villa in Hattersheim wohnte und nur ein paar Minuten zum Ort des vermeintlichen Verbrechens brauchte, war bereits da. Er stand zusammen mit den Beamten des KDD auf dem Flur.
»Und?« fragte sie ihn. »Was ist passiert?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn ich das wüßte. Es sieht auf jeden Fall nicht nach einem natürlichen Tod aus. Aber schau’s dir selber an.«
Julia Durant betrat zusammen mit Hellmer den Raum, in dem drei Kollegen von der Spurensicherung bei der Arbeit waren.
»Wer hat ihn gefunden?« fragte sie, während sie sich auf den Schreibtisch zubewegte.
»Seine Frau.«
»Und wann?«
»Vor etwa anderthalb Stunden. Sie hat sofort ihre Hausärztin angerufen, die allerdings gleich die Polizei verständigte. Tja, und jetzt sind wir hier.«
»Wo ist die Ärztin?« fragte sie und warf einen langen Blick auf den Toten, dessen Gesicht in einer Lache aus geronnenem Blut lag.
»Ich bin Dr. Fink«, sagte die Frau, die jetzt hinter der Kommissarin stand.
Sie drehte sich zu ihr um, musterte die junge Frau, die zwar kein schönes, aber ein hübsches und sehr markantes Gesicht hatte, einen Augenblick, fragte: »Sie haben nichts berührt?«
»Nein. Ich habe lediglich seinen Puls gefühlt und ihm in die Augen geleuchtet. Alles andere wollte ich Ihnen überlassen.«
»Und, haben Sie eine Vermutung? Ich meine, was die Todesursache sein könnte?«
»Sicher, aber es ist nur eine Vermutung. Die extreme Blutung kann auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sein, doch keine der, sagen wir ›normalen‹ Möglichkeiten, trifft auf Herrn Rosenzweig zu …«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, Herr Rosenzweig war bei mir in Behandlung, er litt seit etwa drei Jahren unter Diabetes mellitus und hat sich regelmäßig den notwendigen Untersuchungen unterzogen. Er war, bis auf seinen erhöhten Blutzuckerspiegel, ein kerngesunder Mann. Er war erst letzte Woche bei mir. Deshalb …«
Wieder wurde sie von der Kommissarin unterbrochen. »Welche normalen Faktoren können zu derartigen Blutungen führen?«
»Es gibt verschiedene Ursachen. Zum Beispiel eine extrem verminderte Zahl der Thrombozyten, das heißt der Blutplättchen, die für die Blutgerinnung verantwortlich sind, eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung, Leukämie, und einiges mehr. Doch bei der letzten Untersuchung lagen Herrn Rosenzweigs Blutwerte absolut im Normbereich. Seine Thrombozytenzahl war normal, es gab auch keinerlei Hinweise, die auf eine ernsthafte innere Erkrankung hindeuteten. Deshalb kommt mir dieser Tod, der offensichtlich durch Verbluten eingetreten ist, bei ihm mehr als merkwürdig vor. Ein potentieller Herzinfarkt oder ein Schlaganfall kann nie mit Sicherheit ausgeschlossen werden, wenn man lediglich die üblichen Laborwerte zugrunde legt. Aber Herr Rosenzweig ist weder an einem Herzinfarkt noch an einem Schlaganfall gestorben.«
»Und an was ist er Ihrer Meinung nach gestorben?«
»Es gibt bestimmte Toxinmischungen, die derartige Blutungen auslösen können …«
»Was für Toxine?«
»Nun, zum Beispiel Schlangengifte. Es gibt unter anderem einigesehr hochwirksame Schlangengifte, die ganz erheblich in die Blutgerinnung eingreifen und das Blut praktisch ungerinnbar machen. In solchen Fällen kommt es dann zu einer sogenannten Verbrauchskoagulopathie, bei der selbst geringste, mit bloßem Auge kaum sichtbare Wunden plötzlich anfangen zu bluten. Das können winzige Risse
Weitere Kostenlose Bücher