Letzter Gruss - Thriller
in den Händen, dann erhob er sich und trat an den wackeligen Schreibtisch, der an der Wand stand. Er setzte sich auf den Hocker und stützte die Ellenbogen auf seine Unterlagen, die Notizen, die er sich zu den Opfern gemacht hatte, seine Interpretationen und die nicht erwiesenen Zusammenhänge. Über das Paar in Berlin wusste er erst wenig, lediglich Namen und Alter: Karen und Billy Cowley, beide dreiundzwanzig Jahre alt, aus Canberra, Australien. Betäubt und ermordet in der nahe der Charité gelegenen Mietwohnung, die sie für zwei Wochen im Voraus bezahlt hatten, ohne jedoch jemals die Gelegenheit zu bekommen, sie zu nutzen. Stattdessen wurden sie bereits an ihrem zweiten, möglicherweise dritten Tag in der Wohnung verstümmelt und mit durchgeschnittenen Kehlen zurückgelassen.
Danach hatte es vier, vielleicht sogar fünf Tage gedauert, bis man sie fand.
Jacob stand auf und ging zurück zum Bett. Er griff nach dem Polaroidfoto des Paares, das dem Journalisten der Berliner Zeitung
zugeschickt worden war. Irgendwo hier verlief die Grenze dessen, was sein Gehirn zu begreifen vermochte.
Warum schickten die Mörder zuerst eine Postkarte und anschließend ekelhafte Schlachtbilder an die Medien in jenen Städten, in denen sie ihre Morde begingen? Um zu schockieren? Um zu Ruhm und Ehre zu gelangen? Oder hatten sie etwas anderes im Sinn? Waren die Bilder und Postkarten lediglich ein Ablenkungsmanöver, um ihre wahren Motive zu verschleiern? Und welche Motive konnten das sein?
Er betrachtete das Foto eingehend, diese makabre Komposition. Es musste einen Sinn ergeben, nur erkannte er ihn nicht.
Er sah sich noch einmal das Bild des Paares in Paris an.
Emily und Clive Spencer, frisch verheiratet, in einem Hotelzimmer in Montparnasse nebeneinander an ein helles Bettkopfteil aus Holz gelehnt. Beide nackt. Die Ströme von Blut auf ihren Leibern hatten sich um ihre Geschlechtsteile zu kleinen eingetrockneten Pfützen gesammelt.
2
Warum Emily? Warum Clive? Womit hatten sie das verdient?
Er griff nach dem Hochzeitsfoto, das ihm Emilys Mutter per Mail geschickt hatte.
Sie war gerade einundzwanzig Jahre alt, er hatte es immerhin auf dreißig gebracht. Sie waren ein unglaublich schönes Paar, das Hochzeitsfoto strotzte vor Glück und Romantik. Er trug einen Frack, lang und stattlich. Vielleicht war er eine Spur übergewichtig, doch das passte zu seiner Position als Makler an der Londoner Börse. Klein, schmächtig und bezaubernd glich sie in ihrem elfenbeinweißen Kleid und mit großen Ringellocken um den Kopf einer Märchenprinzessin. Ihre Augen strahlten in die Kamera. In einem halben Jahr hätte sie ihr Studium zur Betriebswirtin abgeschlossen. Die beiden waren sich auf einer Silvesterfeier bei einem gemeinsamen Bekannten in Notting Hill begegnet. In einem jener schmalen, schicken Häuschen, in denen der Film mit Hugh Grant und Julia Roberts gedreht worden war.
Emilys Mutter hatte am Telefon gar nicht aufhören können zu weinen. Er konnte weder trösten noch helfen, nur zuhören. Offiziell war er ja nicht einmal auf den Fall angesetzt. Als amerikanischer Polizist musste er sich davor hüten, sich in die Gesetzesausübung anderer Länder einzumischen. Das konnte sowohl zu großen diplomatischen Verwicklungen führen als auch – und
das wäre noch schlimmer – zu seiner sofortigen Ausweisung in die USA.
Er machte eine weitere Flasche Wein auf, füllte das Glas und ging noch einmal die zwei Schritte zum Fenster. Die Ratte war weg, oder es war inzwischen so dunkel geworden, dass er sie nicht mehr sehen konnte.
Die Verzweiflung überfiel ihn mit einer Wucht, dass es ihm den Atem verschlug und das Weinglas in seiner Hand erzitterte. Schnell kippte er den Inhalt hinunter und schenkte nach.
Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch, allen Bildern und Postkarten den Rücken zugewandt, um sie nicht mehr sehen zu müssen.
Vielleicht sollte er duschen. Ins Gemeinschaftsbad am Ende des Flurs gehen und darauf hoffen, dass noch Heißwasser übrig war. Hatte er überhaupt Seife?
Er trank noch ein bisschen Wein.
Als die Flasche leer war, nahm er das Bild des toten Paares aus Rom zur Hand. Legte es vor sich auf den Schreibtisch, seine Dienstwaffe daneben, so wie er es immer tat.
Vom Mord in Rom hatten die Mörder zwei Fotos geschickt, eines zeigte die beiden nackten Opfer, das andere war eine Nahaufnahme ihrer Hände, die linke der Frau und die rechte des Mannes.
Mit dem Finger folgte er den Konturen der schönen
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