Leuchtfeuer Der Liebe
flackerte. Jesse stemmte sich gegen die Ruderpinne und steuerte das kleine Boot auf die See hinaus. Er hatte diese Fahrt an die hundert Mal gemacht - allerdings nur in Gedanken.
Die Wirklichkeit war wesentlich beängstigender, da er sich in seinen kühnsten Fantasien nicht vorgestellt hatte, um welchen Einsatz er sein Leben riskierte. Die Furcht in ihm war ein größeres Monster als die Wogen, die sich auftürmten wie Berge aus Glas.
Das Entsetzen drohte ihn in die Tiefe zu reißen. Aber er durfte nicht aufgeben. Mary war da draußen, den Gefahren der Sandbänke hilflos ausgeliefert.
Es war die grässlichste Fahrt seines Leben. Doch für Mary und das Kind riskierte er alles. Den Südwester tief ins Gesicht gezogen, den Kragen des Ölzeugs hochgeschlagen, kämpfte er sich durch die kochende See den tückischen Untiefen der nördlichen Sandbank entgegen. Und immer wenn sein kleines Boot auf dem Grat eines Brechers schwebte, konnte er einen kurzen Augenblick die Lichter der Trident erkennen.
Der Schoner steckte mit dem Kiel in der Sandbank fest. Über dem Heulen des Sturms hörte Jesse das Ächzen der Schiffsplanken. Bald würde der Rumpf bersten. Brecher schlugen über der Trident zusammen.
Mit jeder Welle wurde das Schiff hochgeworfen, die beiden Masten reckten sich wie die Arme eines Ertrinkenden in den Nachthimmel.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Jesse das Schiff erreichte. Und dann, als er nahe genug war, ging alles viel zu schnell. Ihm blieben nur wenige Sekunden, um den Enterhaken an einer langen Leine über die schäumenden Wogen zu werfen. Ein halbes Dutzend Würfe verfehlten ihr Ziel. Einmal verlor er beinahe das Gleichgewicht, als eine Welle das Boot hochwarf.
Schließlich bohrte der Haken sich in Holz und hielt fest. Zähneknirschend zog Jesse sich an der Leine an den Schoner heran.
„Mr. Clapp", schrie jemand in die Kabine herunter. „Wir bekommen Hilfe!"
Granger warf Mary einen hasserfüllten Blick zu und verließ die Kabine. Annabelle war auf die schmale Koje gesunken und schluchzte haltlos.
Mary nahm ihr Baby an sich, knüpfte die Enden der Decke zu einer Schlinge und band sich Davy vor die Brust. Ihre Hände zitterten, ihr Atem ging keuchend. Unsicher taumelte sie an Deck, zog es vor, sich dem Sturm auszusetzen, um Grangers Willkür zu entgehen.
Salzige Gischt stach ihr ins Gesicht. Sie zurrte die Decke fester um Davy. Das Schiff leckte und war vollgeschlagen, Wellen schwappten über das Schanzkleid und überfluteten das Deck, die Männer wateten knietief im Wasser. Das einzige Rettungsboot lag kieloben auf dem Deck, aus dem zersplitterten Rumpf ragte eine Eisenstange.
„Gütiger Herr im Himmel steh uns bei", stieß Mary keuchend hervor und klammerte sich an ein dickes Tau. Instinktiv suchte sie den Horizont nach dem Leuchtfeuer ab und konnte nichts finden. Wo, in Gottes Namen, war Jesse?
Die vier Seeleute und Granger standen an der Steuerbordreling. Es dauerte eine Weile, ehe Mary den Grund begriff. Ein Lotsenboot hatte sie gefunden und beigelegt.
Ein Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf, als der Lotse, ein hoch gewachsener Mann in Ölzeug und breitrandigem Südwester, an Bord kam.
„Rettet euch ins Boot!" schrie der Lotse.
Die vier Männer ließen sich das nicht zwei Mal sagen, befestigten ein Taljereep und ließen sich, einer nach dem anderen, in das Lotsenboot hinunter.
Mary stürmte in die Kabine zurück. „Annabelle!" schrie sie. „Ein Boot kommt zu unserer Rettung! Schnell, beeilen Sie sich!"
Annabelle taumelte durch die schlingernde Kabine. Mary hielt einen Arm schützend um ihr Baby und half Annabelle aus der Kabine. Als die Frauen das Deck erreichten, hatte die Besatzung das Schiff bereits verlassen. Nur Granger und der Fremde waren geblieben.
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Statt sich aber um das Rettungsboot zu kümmern, waren die beiden in einem tödlichen Zweikampf verkeilt. Dem Lotsen war der Hut vom Kopf gerissen worden. Der Wind wehte ihm langes dunkles Haar ins Gesicht.
„Jesse!" schrie Mary gellend, entsetzt und fassungslos. Jesse, der geschworen hatte, nie wieder Segel zu setzen, war gekommen, um sie zu retten.
Der Hass der beiden kämpfenden Männer war gewaltiger als der Sturm und die See. Ohne auf die Wellen zu achten, die auf sie herniederstürzten, schlugen sie mit Fäusten und Stiefeln aufeinander ein.
„Gütiger Himmel!" Mary hielt Annabelles Hand. „Die beiden bringen sich um, und wir sind alle verloren." Weit vorgebeugt, mit hochgezogenen Schultern, kämpfte Mary
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