Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
ist.«
Constable Sellick lief rot an. »Die Zeugen sind absolut zuverlässig. Hätten wir Sie sonst alarmiert?«, brummte er ärgerlich.
»Ron, holen Sie doch bitte das Luminol und die UV-Lampe und etwas zum Abdecken aus dem Wagen.« Der Mann musste beschäftigt werden. Zu Sellick bemerkte sie leise: »Nehmen Sie es nicht persönlich. So ist er immer.« Sie glaubte das selbst nicht, aber es half, die Wogen zu glätten.
Sie kehrte zu ihrem Gedankengang zurück. War der Mann selbst ins Wasser gesprungen und ertrunken? Suizid? Alles sprach dagegen. Man hatte nirgends Kleider gefunden. Und warum sollte sich jemand die Mühe machen, sich auszuziehen, bevor er sich umbringt? Hatte jemand den Toten hineingeworfen? Unwahrscheinlich. Erstens hätte der Täter die denkbar dümmste Zeit dafür ausgewählt, während das Wasser anstieg. Die Flut hätte den Toten gleich wieder an Land gespült. Jeder halbwegs vernünftige Verbrecher hätte den Leichnam bei abnehmender Tide entsorgt. Zweitens hätte ein Täter nicht ausgerechnet den populären Platz bei den Towers ausgesucht. Die letzte Variante schien ihr am wahrscheinlichsten. Die Meeresströmung hatte den toten Körper angeschwemmt. Das passte zu den Gezeiten und Zeugenaussagen.
Ron brachte die Lampe, eine Spezialanfertigung, die ohne Generator wie eine starke Taschenlampe funktionierte. Sie bat die beiden Männer, die Schutzfolie über ihr auszubreiten, um sie vom Licht der untergehenden Sonne abzuschirmen. Langsam bewegte sie den unsichtbaren Kegel des ultravioletten Lichts über die Steine. Hin und wieder leuchteten ein paar Punkte auf. Mikroorganismen, keine Blutspritzer. Nach einer Weile richtete sie sich auf. »Nichts, keine Blutspuren und keine Abschürfungen. Hier ist kein Gewaltverbrechen geschehen.«
»Sag ich doch«, grinste Ron.
»Bleibt die Frage: Wie ist der Tote wieder verschwunden?«
»Sie glauben immer noch an die Leiche, Sergeant?«
»Nichts zu finden heißt ja nicht, dass nichts da war, Detective«, gab sie gereizt zurück.
Ron übertrieb seine Skepsis, fand sie. Vielleicht die Schule des DCI? Es gab immerhin Zeugenaussagen. Die durften sie nicht einfach ignorieren. Hatten Wellen und Strömung die Leiche wieder auf die offene See getrieben? Auch das war unwahrscheinlich, wenn sie der Aussage der Knaben und der Lehrerin glauben wollte. Der eingeklemmte Arm sprach deutlich dagegen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer sah sie das Bild. Jemand hatte den Toten in der Zeit zwischen der Meldung des Fundes und dem Eintreffen der Polizei abtransportiert. Die Ebbe hatte einen schmalen Streifen des sandigen Bodens um den Damm freigelegt. Fußspuren würde sie kaum finden, aber vielleicht ...
Sie stutzte plötzlich und fragte Sellick: »Legen hier Boote an?«
»Boote? Meines Wissens können hier gar keine Boote anlegen.«
»Und doch war kürzlich eines da, sehen Sie?« Sie zeigte auf eine keilförmige Vertiefung im Sand. »Die Kanten sind zu regelmäßig und deutlich ausgeprägt. Sie sind nicht zufällig entstanden. Ich meine, dort lag ein kleines Boot.«
Ron kniff die Augen zusammen, starrte eine Weile auf die Stelle, dann gab er kleinlaut zu: »Sie könnten recht haben, Sergeant.«
»Chris«, schmunzelte sie.
»Das bedeutet, dass wir Küste und Häfen nach ungewöhnlichen Bootsbewegungen absuchen müssen«, murmelte Sellick nachdenklich. »Ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn Sie mich fragen.«
Sie nickte. »Trotzdem notwendig, fürchte ich.«
»Und nicht nur die Küste Kents«, ergänzte Ron. »Ihre Kollegen gegenüber in Essex sind genauso betroffen.«
»Ist mir klar. Ich kümmere mich darum. Ich werde mich auf Sie berufen, falls es Schwierigkeiten gibt.«
Damit hatten die Detectives kein Problem. Als sie wieder in Rons Wagen saßen, zögerte er, den Motor zu starten.
»Ich verstehe ja, dass ein Täter seine Leiche verschwinden lassen will«, meinte er kopfschüttelnd. »Aber dass Opfer ausbüchsen und wieder eingesammelt werden, ist mir neu.«
»Ungewöhnlich«, gab sie zu.
Sie äußerte ihren Verdacht nicht laut. Spekulationen brachten sie nicht weiter. Ob es ihr passte oder nicht, sie konnten im Augenblick nichts mehr tun. Wohl ganz im Sinne des DCI.
»Ziemlich enttäuschend, mein erster Einsatz«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Kollegen.
Ron zog ein schiefes Gesicht. »Daran können Sie sich gar nicht schnell genug gewöhnen, Sergeant – Chris. Der DCI hat zwar eine phänomenale Aufklärungsquote, aber es gibt
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