Das 5. Gebot (German Edition)
1. Vicky
„Nein!“ George rüttelte an ihrer Schulter. „Psst, Vicky!“ Victoria stieß ihn weg und blinzelte. Ihr Gesicht war tränennass. Das fahle Licht, das sie durch die geschlossenen Jalousien wahrnahm, sagte ihr, dass es ungefähr fünf Uhr morgens sein musste. Die Geisterstunde ist vorbei, dachte sie und wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel ihrer Bettdecke trocken. George lag neben ihr auf dem Rücken, sie hörte seine gleichmäßigen Atemzüge, die ein bisschen so klangen, als atmete er durch einen Schnorchel. Er schien sofort wieder eingeschlafen zu sein. Sie drehte sich ebenfalls auf den Rücken und starrte in die Dämmerung. Wieder dieser Traum. Immer wieder derselbe Traum, sie hatte ihn schon geträumt, als sie noch ein Kind gewesen war. Streng genommen war es gar kein Alptraum. Ein kleines Mädchen lief mit ausgestreckten Armen auf sie zu und rief: Ela! Ela! Aber es muss doch ein Alptraum sein, dachte sie, wenn ich dabei immer weine.
Sie setzte sich im Bett auf und versuchte, im Dunklen nach ihren Flip-Flops zu fischen. Trotz der leisen Schnorchelgeräusche ihres Mannes fühlte sie sich entsetzlich einsam. Als Kind war sie nach diesem Traum immer zu ihrer Mutter ins Bett gekrabbelt. Ihre Mutter hatte den Arm um sie gelegt, ihr Gesicht mit Küssen bedeckt und sie in den Schlaf gewiegt. Bei dem Gedanken an ihre Mutter musste Victoria schlucken. Leise zog sie die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu und schlich ins Bad. Durch die Dachfenster sickerte Morgenlicht. Sie öffnete den Wasserhahn und ließ lauwarmes Wasser in die Hände laufen. Dabei schaute sie in den großen, indirekt beleuchteten Spiegel. Ich sehe aus wie ein Gespenst, dachte sie und benetzte ihr Gesicht mit Wasser.
Ela, Ela! Vicky schüttelte sich, um die Kinderstimme aus ihrem Traum loszuwerden. Dieser Traum war so schrecklich realistisch. Sie griff nach einem der meergrünen, flauschigen Handtücher und tupfte sich das Gesicht ab. Ihre braunen Augen leuchteten ihr aus dem Spiegel entgegen, und sie wusste, dass es dieselben Augen waren, die sie in ihrem Traum anschauten. Nicht mehr ganz so unschuldig, nicht mehr ganz so verletzlich, aber es waren ihre eigenen Augen, die sie nachts zum Weinen brachten.
Sie schaltete das Licht im Badezimmer aus und stieg die Treppe hinunter in den großen Wohnraum, der fast zur Hälfte von der cremeweißen Ledercouch ausgefüllt wurde. Obwohl sie schon seit fünf Monaten in Berlin wohnten, hatten sie noch nicht viele Möbel. Sie schlurfte in die Küche und schenkte sich ein Glas Milch ein. Damit machte sie es sich auf der Couch bequem. Das kühle Leder ließ sie frösteln. Sie nahm die hellbraune Wolldecke, die über der Lehne hing, und wickelte sich darin ein.
Wie gern hätte sie jetzt eine Zigarette geraucht. Aber das Rauchen war das Erste, was sie aufgegeben hatte. Und Victoria hatte eine Menge aufgegeben. Eigentlich habe ich mein ganzes Leben aufgeben, dachte sie. Dabei war sie es, die alles verlassen hatte: Ihren Job. Ihre Freunde. Ihre Familie. Vicky merkte, wie sich ihr Herz zusammenzog, sie hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu kriegen. Raus hier, dachte sie. Leise schlich sie in die Kammer, die ihnen als Kleiderschrank diente, und schnappte sich ihre Laufklamotten. Sie musste an die frische Luft. Für George ließ sie in der Küche einen Zettel liegen: Bin joggen, Kuss, Vicky.
2. Krumme Lanke
Victoria stellte sich die Geräusche des Waldes oft als Partitur vor. Rund um die Krumme Lanke hatte jede Tageszeit ihren eigenen Rhythmus. Das Stakkato der Nordic Walker, das sie mit ihren Skistöcken auf dem ausgetretenen Waldboden erzeugten, war der Rhythmus des frühen Vormittags. Jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, war der Rhythmus dumpfer, schneller, angestrengter, eindeutig Allegro, der Rhythmus der joggenden Businessfrauen. Ganz selten sah man frühmorgens joggende Männer, sie kamen erst abends, und wenn sie mit ihren Hunden um die Wette hechelten, wurde das Tempo zu einem ehrgeizigen, fordernden Presto.
Meistens lief Vicky am frühen Vormittag, wenn der Wald all jenen gehörte, die tagsüber Zeit hatten: Rentnerinnen, Gattinnen, jungen Müttern, die ihre Kinder in den Waldorf-Kindergarten gebracht hatten, all jenen, die sich vorgenommen hatten, endlich mal wieder etwas für sich zu tun, verbunden in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die Pfunde, gegen die Verkalkung oder gegen die Langeweile. Ein riesiger, schwitzender Harem, dachte Victoria.
Sie fühlte sich weder zu der einen noch
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