Lichthaus Kaltgestellt
seinen ganzen Körper wie einen Rammbock, schrie nicht einmal Polizei, sondern pflügte kaum etwas wahrnehmend hindurch. Er spürte, wie zwei Besucher schreiend in den Schlamm krachten, sah, wie sich Bierbecher über Kleidung ergossen, hörte die wildesten Flüche, doch in seinem Kopf brandete nur das Echo von Scherers Stöhnen, ließ ihn den Abgrund spüren, in den dieser geschaut hatte.
Viel zu viel Zeit benötigte er, um die Menschenmasse hinter sich zu lassen. Hinter den Bierständen wurde es leerer, und er sprintete, was sein Körper hergab, fiel hin, sprang wieder auf, bis er am Fluss ankam. Die Lieser war an dieser Stelle locker mit Auwäldern bewachsen. Kinder hatten mittags hier unten getobt, hatten Schiffchen fahren lassen und waren schreiend in die Lieser gefallen. Doch jetzt wirkten die Bäume wie abweisende Riesen, die Schlimmes zu verbergen hatten.
Er sprang zwischen ihnen hindurch, kam ins Stolpern und rutschte über Äste und fauliges Laub bis unmittelbar an das Ufer. Schnell wirbelte er herum und bewegte sich einige Meter schleichend weiter, um nicht Opfer eines Schusses zu werden. Dann ging er in die Hocke und zwang Puls und Atmung zur Ruhe. Es gelang nicht sofort, und er beobachtete keuchend den Fluss und das gegenüberliegende Ufer. Die Lieser gluckerte schwarz zu seinen Füßen vorbei. Nur hier und da ließ eine weiße Schaumkrone erkennen, wo die Wasserfläche war. Der Fluss war etwa fünf Meter breit und maß selbst an tiefen Stellen nur einen halben Meter, zwischendrin gab es aber auch Passagen, wo das Wasser gerade bis über die Knöchel reichte. Auf der anderen Seite stieg die mit Mischwald bewachsene Böschung steil an. Keine Wege führten hinauf. Außer dem fließenden Wasser war nichts weiter zu hören, als das entfernte Gemurmel der Besucher, die sich ein Stück weiter zu seiner Rechten geduldig über die Brücke und den Steg drückten. Schwaches Licht beleuchtete die Szenerie. Einen Ritter konnte er nicht ausmachen. Er ging in die Knie und spähte gegen den Lichtschein vom Festgelände den Fluss entlang, aber auch so war nichts zu erkennen. Wo blieben bloß die Kollegen?
Er wandte sich nach links und arbeitete sich flussaufwärts, wobei er immer wieder die Lampe aufblitzen ließ, um das Ufer abzusuchen. Das Letzte, was er aus Scherers Mikrofon gehört hatte, waren die Fließgeräusche des Wassers gewesen. Vermutlich hatte der Täter ihn hierher gezogen, um unbemerkt zu entkommen. Er hielt inne und lauschte. Nichts. Nur das Summen des Festes, gelegentlich von gedämpften Rufen durchbrochen. Er ging weiter, beklommen suchend. Das Unterholz wurde dichter, er kam nun langsamer voran. Teilweise reichten die Äste der Haselnusssträucher so weit herab, dass er in den Fluss ausweichen musste. Das Wasser lief ihm in die Schuhe und war trotz der Hitze der vergangenen Wochen eiskalt. Doch er beachtete es nicht, suchte weiter, fand Unrat, scheuchte zwei Mäuse und eine Amsel auf, die voller Angst protestierend in die Dunkelheit flüchteten.
Endlich hörte er die Kollegen. Steinrausch und Sophie Erdmann kamen geduckt am Rand des Auwaldes gelaufen. Er schaltete kurz die Lampe ein, um den beiden seine Position zu zeigen, als er die Schleifspuren sah, die unmittelbar am Ufer endeten, sich noch einige Zentimeter durch den weichen Schlamm zogen, bevor sie im Dunkeln verschwanden. Lichthaus’ Blick verlängerte im Geist die Linie über das Wasser hinweg und fand, was er suchte. Scherer lag mitten im Fluss, den Kopf über Wasser, das Gesicht nach oben. Hoffnung brandete in ihm auf. Noch schien nicht alles verloren.
»Hier, ich habe ihn gefunden«, brüllte er mit sich überschlagender Stimme so laut er konnte und stürmte ins Wasser. Er schaltete die Lampe auf Dauerbetrieb, pfiff auf alle Vorsicht. Scherer lag, den Oberkörper von Wellen umspült, auf einer kleinen Sandbank und konnte so nicht abgetrieben werden. Im Schein des Lichtstrahls konnte er keine äußeren Verletzungen erkennen, doch das täuschte vielleicht. Eile war geboten. Gerade als er sich nach unten beugte, um Scherer anzuheben, kamen Sophie Erdmann und Steinrausch herbei und sprangen ohne zu zögern in den Fluss. Gemeinsam hoben sie den Kollegen an. Im fahlen Licht konnte Lichthaus erkennen, wie panikgleiche Angst ihre Gesichter verzerrte. Lichthaus wusste, dass er ebenso aussah. Sie stöhnten vor Anstrengung. Der Poncho und die restliche Kleidung zogen vom Wasser vollgesogen schwer nach unten, während sie über die glitschigen
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