Eine skandalöse Lady
1
Verehrter Leser, ich werde niemals jenen Moment vergessen, da ich zum ersten Mal den Mann erblickte, der mich umzubringen plante …
London, 1825
Carlotta Anne Fairleigh schlüpfte nach draußen. Aber unglücklicherweise schlüpfte sie nicht nur aus dem Fenster im zweiten Stock des eleganten Mayfair-Stadthauses ihrer Tante Diana, sondern gleichzeitig auch aus dem Oberteil ihres kostbaren Ballkleides. Ersteres wäre ihr vielleicht ohne Zwischenfall gelungen, wenn die Seidenrüschen, die das Mieder ihrer Abendrobe zierten, nicht an einem vorstehenden Nagel am Fensterbrett hängen geblieben wären.
»Harriet!«, flüsterte Lottie verzweifelt. »Harriet, wo bist du? Ich brauche dringend deine Hilfe!«
Sie reckte den Hals und spähte in den gemütlichen Salon, in dem sie bis vor ein paar Minuten äußerst behaglich gesessen hatte. Eine Katze mit buschigem weißem Fell döste vor dem Kamin, Harriet allerdings schien gemeinsam mit Lotties Glück verschwunden zu sein.
»Wo steckt das dumme Gänschen von Mädchen nur?«, murmelte Lottie vor sich hin.
Während sie sich bemühte, die Rüsche von dem Nagel zu lösen, rutschte sie mit den glatten Sohlen ihrer dünnen Ziegenlederschuhe auf dem Ast aus, sodass sie auf dem leicht glitschigen Holz verzweifelt nach Halt suchen musste.
Verstohlen blickte sie über ihre Schulter nach hinten, während ihre Arme von der Anstrengung und der unnatürlichen Haltung schmerzten. Die Steinplatten auf der Terrasse unter ihr, die noch vor wenigen Minuten so leicht erreichbar zu sein schienen, waren nun Meilen entfernt. Kurz erwog sie, nach einem Lakai zu rufen, fürchtete aber, dass es ihr Bruder wäre, der kommen und sie in ihrer gegenwärtigen Zwangslage entdecken würde. Obwohl nur zwei Jahre älter, war George, nachdem er gerade von seiner ersten Grand Tour auf dem Kontinent zurückgekehrt war, nur zu gerne bereit, seine kleine Schwester bei jeder passenden Gelegenheit mit seiner neu erworbenen Welterfahrenheit zu belehren.
Die misstönenden Laute eines Streichquartetts, das seine Instrumente stimmte, klangen durch die Französischen Fenster auf der Nordseite des Hauses. In Kürze, das wusste Lottie, würde sie das Rattern von Kutschenrädern, leises Stimmengemurmel und Gelächter hören, wenn die Creme des Londoner Adels eintreffen würde, um Lotties Einführung in die Gesellschaft feierlich zu begehen. Sie konnten nicht ahnen, dass der Ehrengast des Ereignisses eben gerade aus einem Fenster zwei Stockwerke über ihnen hing und damit höchstwahrscheinlich seine einzige Chance auf Ehrbarkeit verwirkt hatte.
Lottie wäre nicht in diese Klemme geraten, wenn Sterling Harlow, ihr Schwager und Vormund, ihr Debüt in Devonbrooke House abgehalten hätte, seinem weitläufigen Stadthaus im West End. Aber seine Cousine Diana hatte ihm die Zusage entlockt, ihr die Ehre zu überlassen.
Es bedurfte keiner großen Anstrengung sich auszumalen, wie die illustren Gäste ihrer Tante unten auf der Terrasse um Lotties Körper, der auf den Steinplatten zerschmettert dalag, herumstehen würden. Die Damen würden ihre parfümierten Spitzentücher an die Lippen drücken, um ihre Schluchzer zu dämpfen, während die Männer betrübt die Köpfe schütteln, bedauernd mit der Zunge schnalzen und leise bemerken würden, was für eine Schande es sei, Lotties anregender Gesellschaft auf immer beraubt zu sein. Sie warf einen wehmütigen Blick auf den sattvioletten Popelinstoff ihres Abendkleides. Wenn es nicht zu großen Schaden bei ihrem Absturz nahm, konnte ihre Familie sie darin vielleicht beisetzen.
Sich deren Reaktion vorzustellen war ebenfalls nicht schwierig. Ihre Schwester Laura würde ihr vom Weinen fleckiges Gesicht an der Brust ihres Mannes bergen, ihr zart fühlendes Herz zum letzten Mal von Lotties Leichtsinn gebrochen. Aber am allerschlimmsten wäre die bittere Enttäuschung, die sich auf die attraktiven Züge ihres Schwagers malen würde. Sterling hatte erhebliche Zeit, Mühe, Geduld und Geld darauf verwendet, sie in eine junge Dame zu verwandeln. Heute Nacht war ihre letzte Chance, ihm zu beweisen, dass seine Bemühungen nicht vergebens gewesen waren.
Lottie säße noch immer vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode, wäre ihre beste Freundin Harriet nicht in den Raum gekommen, gerade als die Kammerzofe ihrer Tante letzte Hand an Lotties Frisur legte.
Da ihr die hektische Röte in den Wangen ihrer Freundin nicht entgangen war, hatte sich Lottie rasch erhoben. »Danke, Celeste, das ist
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