Lichthaus Kaltgestellt
inniger Umarmung. Die Wärme seines Körpers drang zu ihr herüber. Ekel stieg in ihr hoch. Sie würgte. Wehrlos schaute sie hinüber zu der Lampe über der Haustür ihrer Eltern. Alles in ihr war Verzweiflung, dann verlor sie das Bewusstsein.
*
Johannes Lichthaus lehnte an der offenen Terrassentür und schaute in den kleinen Garten. Er trank einen Schluck von seinem Tee und genoss die Ruhe und Kühle des frühen Morgens. Schon um sechs Uhr war er heute aufgestanden, obwohl sie eine unruhige Nacht gehabt hatten. Vor ihm die Amseln nutzten die frühe Stunde, um aus der noch taunassen Wiese die Würmer zu picken. Lichthaus ließ seinen Blick in die Weinberge schweifen, die unmittelbar hinter ihrem Garten begannen.
Er stellte die Tasse auf den Tisch und trat hinaus auf den Rasen, wobei er es ein wenig bedauerte, die Vögel zu verjagen. Die Sonne hatte bereits erstaunlich viel Kraft, und er begann leicht zu schwitzen, während er zu den Rosen hinüberging, die weithin leuchteten. Der Rosenstock war alt, unten am Stamm richtig knotig, doch die frischen Blüten, noch feucht vom Tau, wirkten zart wie Babyhaut. Lichthaus schnitt eine ab und ging zurück ins Haus, durchs Wohnzimmer direkt in die Küche. Sie hatten das alte Winzerhaus hier in Eitelsbach vor drei Jahren gekauft und lange für die Renovierung gebraucht. Den linken Teil nutzten sie als Wohnhaus. Im rechten befand sich Claudias Atelier. Um Raum zu gewinnen, hatten sie zum Garten hin einen Anbau mit Galerie errichtet. Er ging in die Küche und räumte seine Tasse leise in die Spülmaschine. Dann deckte er für Claudia den Tisch und stellte die Rose dazu.
Er war missmutig. In den vergangenen Wochen hatten sie immer zusammen gefrühstückt, Claudia, er und die Kleine in ihrem Körbchen. Drei Wochen Vaterschaftsurlaub. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Die ersten Tage stressig, voller Angst, etwas falsch zu machen, doch schließlich war Routine aufgekommen. Wickeln und Stillen, Stillen und Wickeln. Ein natürlicher Rhythmus, der vor allem Claudia, aber auch ihn aufnahm und alles andere jenseits ihrer kleinen Welt unwichtig erscheinen ließ. Die Erinnerung an die Zeit vor Henriette verblasste bereits, war für ihn kaum noch vorstellbar.
Lichthaus packte seine Brote in die Aktentasche, dann ging er hinaus ins Wohnzimmer und die Treppe hinauf auf die Galerie. Der hohe Raum mit seiner übersichtlichen Einrichtung würde die Kühle noch lange speichern. Sein Blick fiel auf das Gemälde an der großen Wand. Für ihn war es das beste Bild, das Claudia bisher gemalt hatte. Es war diagonal geteilt. Die eine Seite zeigte ein unbeschreiblich trauriges Gesicht, abstrahiert in tristen grauen Farben, wohingegen die andere Seite von einem, so schien es ihm, hoffnungsvollen Gesicht dominiert wurde, das Claudia in lebendigen Farben gemalt hatte. Beide schauten sich an, wie in einem Wettstreit. Für Lichthaus, Leiter der zentralen Kriminalinspektion, charakterisierte das Gemälde die zwei Seiten seines Berufes: Die tiefen Täler der Verzweiflung, wenn man keinen Anhaltspunkt in die Hand bekam, und dann der Enthusiasmus, sobald sich der Nebel hob und die Sicht auf den Täter freigab.
Leise betrat er das Schlafzimmer, in dem die heruntergelassenen Rollos für ein angenehmes Dämmerlicht sorgten. Er betrachtete seine kleine, nun endlich selig schlafende Familie. Die vergangene Nacht war sehr unruhig gewesen. Henriette hatte gequiekt und gestrampelt, hatte beschäftigt werden wollen. Jetzt lag die Kleine ruhig neben ihrer Mutter, dicht an sie gekuschelt. Vorsichtig beugte Lichthaus sich zu ihr hinunter. Sie hatte die Fäustchen geballt und grunzte leise im Schlaf. Ihr Kopf war fast kahl, wie feinste Daunen wehte ein rötlicher Flaum bei jedem Atemzug hin und her. Claudias Gesicht wirkte entspannt, die kurzen roten Haare waren zerzaust. Sie war sehr zierlich, hatte aber eine mentale Kraft und Begeisterungsfähigkeit, die ihn als eher nüchternen Menschen immer wieder aufs Neue faszinierte und häufig mitriss.
Er hatte die gemeinsame Zeit genossen. Ihre Kleinfamilie hatte sich eingespielt, wenn auch nur im Urlaub. Der Alltag begann heute, und er hasste ihn bereits. Er gab Henriette einen leichten Kuss und nahm ihren zarten Babygeruch wahr. Dann küsste er seine Frau, die nur etwas Unverständliches murmelte, und verließ seufzend das Zimmer. Die Vorstellung, jetzt ins Präsidium zu fahren, zu den Kriminellen und dem ganzen tagtäglichen Elend, das die Menschen sich gegenseitig
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