Lichtlos 1 (German Edition)
Personenbeschreibung haben. Bevor du dich hier in dieser Gegend zeigst, Oddie, sehen wir erst mal, wie groß sie die Geschichte in den Nachrichten rausbringen .«
Ich ziehe meine Brieftasche aus einer Gesäßtasche. »Ich habe Bargeld dabei .«
»Ich auch .« Sie winkt ab. »Dafür genügt es .«
Während ich in dem dunklen Wagen hocke, geht sie in das Esslokal.
Sie trägt Turnschuhe, eine graue Hose und einen ausgeleierten Pullover, der ihre Schwangerschaft nicht verbirgt. Die Ärmel sind zu lang und hängen ihr bis auf die Hände. Sie sieht aus wie ein verwahrlostes Kind.
Menschen erwärmen sich auf den ersten Blick für sie, und das Vertrauen, das sie bei jedem wachruft, ist frappierend. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sie abweisen werden, bloß weil es ihr an einer Kreditkarte und an einem Ausweis fehlt.
In Magic Beach hatte sie mietfrei in einer Wohnung über einer Garage gelebt. Sie sagt, obwohl sie nie um etwas bittet, geben Menschen ihr das, was sie braucht. Ich habe selbst gesehen, dass es wahr ist.
Sie behauptet, es gäbe Menschen, die sie umbringen wollen, aber sie scheint sie nicht zu fürchten, wer auch immer sie sein mögen. Bisher habe ich noch keinen Beweis dafür gesehen, dass sie sich überhaupt vor irgendetwas fürchtet.
Im früheren Verlauf des Tages hat sie mich gefragt, ob ich für sie sterben würde. Ohne zu zögern habe ich gesagt, ich täte es – und das war mein Ernst.
Ich verstehe weder meine Reaktion auf sie noch den Ursprung ihrer Kraft. Sie ist etwas anderes als das, was sie zu sein scheint. Sie sagt mir, ich wüsste bereits, was sie ist, und ich bräuchte nur das Wissen zu akzeptieren, das ich bereits besäße.
Sonderbar. Oder vielleicht auch nicht.
Vor langer Zeit habe ich gelernt, dass ich trotz meines sechsten Sinnes nicht einmalig bin und dass die Welt ein Ort ist, an dem sich zahllose Schichten von Wundern überlappen. Die meisten Menschen verschließen sich unbewusst der wahren Natur des Daseins, weil sie das Wissen fürchten, dass diese Welt ein geheimnisvoller und bedeutungsvoller Ort ist. Es ist unermesslich viel einfacher, in einer Welt zu leben, die rein oberflächlich ist, die nichts zu bedeuten hat und einem nichts abverlangt.
Da ich diese wundersame Welt so sehr liebe, bin ich von Natur aus optimistisch und gut gelaunt. Mein Freund und Mentor Ozzie Boone sagt, eine meiner besseren Eigenschaften sei, dass ich mich nicht unterkriegen ließe. Dennoch ruft er mir manchmal, als wollte er mich davor warnen, übermäßige Beschwingtheit könnte zu Leichtsinn führen, ins Gedächtnis zurück, dass auch Scheiße oben schwimmt.
Aber an meinen schlechtesten Tagen – die zwar selten sind, zu denen dieser hier aber zählt – kann ich derart abstürzen, dass die Talsohle der Ort zu sein scheint, an den ich gehöre. Dann will ich nicht mal einen Weg nach oben suchen. Vermutlich ist es eine Sünde, sich der Traurigkeit zu überlassen, obwohl meine derzeitige Traurigkeit keine schwarze Depression ist, sondern Kummer – ein Kummer wie eine lange, trübsinnige Dämmerung.
Als Annamaria zurückkehrt und sich hinter das Steuer setzt, reicht sie mir einen von zwei Schlüsseln. »Dem Motel angeschlossen ist auch ein hübsches Lokal. Blitzsauber. Ein richtig schönes Eckchen, um sich zurückzuziehen, dieser Harmonie-Winkel. Und das Essen riecht gut. Es heißt Harmony Corner , weil all das hier der Familie Harmony gehört und von ihr geführt wird, eine ziemlich große Sippe, nach dem zu urteilen, was mir Holly Harmony erzählt hat. Sie ist die alleinige Kellnerin der Nachtschicht .«
Annamaria lässt den Mercedes an und fährt zum Motel, wobei sie mich wiederholt von der Seite ansieht, doch ich tue so, als würde ich es nicht bemerken.
Nachdem sie zwischen zwei Bungalows geparkt und den Motor und die Scheinwerfer ausgeschaltet hat, sagt sie: »Melancholie kann verführerisch sein, wenn sie mit Selbstmitleid verflochten ist .«
»Ich bemitleide mich nicht « , versichere ich ihr.
»Wie würdest du es denn sonst nennen? Etwa Selbstanteilnahme ?«
Ich beschließe, ihr nicht zu antworten.
»Selbstmitleidenschaft ?« , schlägt sie vor. »Selbstbedauern? Selbstbeileid ?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du zum Sticheln neigst .«
»Oh, junger Mann, ich stichele nicht .«
»Was ist es deiner Meinung nach denn dann ?«
»Mitfühlender Spott .«
Die Landschaftsbeleuchtung in den ausladenden Bäumen, durch Blattwerk gefiltert, das in einer zarten Brise zittert, lässt
Weitere Kostenlose Bücher